27.4.08

Le Chaim, Israel!

Als sich am 14. Mai 1948 der Nationalrat in Tel Aviv zu seiner vierten Sitzung traf, rief David Ben Gurion als Oberhaupt der provisorischen Staatsregierung in Übereinstimmung mit dem UN-Teilungsplan die Gründung des Staates Israel aus. Es dauerte nur wenige Stunden, bis die Armeen von fünf arabischen Staaten das Land angriffen und es in seinen ersten Verteidigungskrieg zwangen, in dem es seine waffenstarrenden Gegner zurückschlug. In Israel wird der Unabhängigkeitstag, der Yom HaAtzmaut, jeweils am 5. Iyar des jüdischen Kalenders gefeiert; just in diesem Jahr, zum sechzigsten Jubiläum des jüdischen Staates, fällt er passenderweise auch noch mit dem Jahrestag der Kapitulation des Nationalsozialismus zusammen.

Lizas Welt wird die nächsten gut zwei Wochen in Israel verbringen und sich dabei auf dem Golan an einem Gläschen Yarden-Wein erfreuen, im Negev die Grabstätte Ben Gurions besuchen und bei den Gedenkfeierlichkeiten zum Yom HaShoah in Yad Vashem sein. Und am 8. Mai natürlich gemeinsam mit vielen anderen den runden Geburtstag Israels in der israelischen Hauptstadt Jerusalem feiern. Daher wird erst am 14. Mai auf diesem Weblog wieder ein neuer Beitrag erscheinen. Bis dahin sei vor allem auf die Internationalen Iran-Konferenzen des Mideast Freedom Forums in Berlin und von Stop the Bomb in Wien aufmerksam gemacht sowie darüber hinaus auf die zahlreichen Veranstaltungen zum Israel-Tag hierzulande.

Bis bald, Lehit und Le Chaim!

26.4.08

Die Sorgen der „Israelkritiker“

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis, und wenn deutsche Intellektuelle eine ähnliche Gemütsregung heimsucht, schreiben sie ein Manifest. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das gleiche: eine Bruchlandung nämlich. Im November 2006 hatten 25 Politologen ein antiisraelisches Pamphlet mit dem Titel „Freundschaft und Kritik“ veröffentlicht, in dem sie dem jüdischen Staat unter anderem vorwarfen, zwecks Unterdrückung der Palästinenser den Holocaust zu instrumentalisieren, weshalb „die ‚besonderen Beziehungen’ zwischen Deutschland und Israel“ schleunigst „überdacht werden“ müssten. Außer vernehmlichem Applaus für dieses abstoßende Traktat gab es auch ein paar Buhrufe; einer davon stammte von Micha Brumlik, weshalb sich zwei der Manifest-Autoren, Reiner Bernstein und Gert Krell, mit ihm erst ins Benehmen setzten und dann eine weitere Abhandlung verfassten. Die heißt „Glückwünsche und Sorgen“, soll „eine Erklärung zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels“ sein und „einen völlig neuen Ansatz“ verfolgen, glaubt man der Frankfurter Rundschau, die dieses Papier kürzlich druckte, nachdem sie bereits dem Politologen-Manifest ein Plätzchen gewährt hatte. Achtzehn weitere Unterzeichner schlossen sich den „Glückwünschen und Sorgen“ an, darunter Daniel Cohn-Bendit, Hajo Funke, Hanno Loewy, Claudia Roth und Johano Strasser.

Worin der „völlig neue Ansatz“ bestehen soll, bleibt allerdings gänzlich unklar. Zwar vermeidet es das Elaborat, einige der gröbsten Ausfälle von „Freundschaft und Kritik“ zu wiederholen; die hierzulande so überaus populäre „Israelkritik“ kommt ansonsten jedoch allenfalls geringfügig modifiziert daher. Dem widerspricht auch nicht, dass man sich zu Beginn ein paar Glückwunschfloskeln abringt: Israel zum 60. Geburtstag zu gratulieren, sei „nicht nur ein Gebot der Höflichkeit“, heißt es da; man respektiere und bewundere außerdem „die Aufbauleistungen, die kulturelle Vielfalt, die wissenschaftlich-technischen Erfolge, die intellektuelle Produktivität und den demokratisch organisierten Pluralismus“, versichern die Verfasser so eilends wie pflichtschuldig, bevor sie ohne weiteres Federlesens auf das Eigentliche, nämlich ihre „großen Sorgen“, zu sprechen kommen. Israels Bevölkerung genieße schließlich „bis heute nicht jene Sicherheit, die sich Theodor Herzl und andere von einer nationalstaatlichen Souveränität als Lösung der ‚jüdischen Frage’ (die ja in erster Linie eine Frage der Nichtjuden war) erhofft hatten; eine Forderung, die sich nach der Shoah dringlicher denn je stellte“.

Und warum die Israelis nicht in Sicherheit leben können, nachdem die Nazis die „Lösung der ‚jüdischen Frage’“ zur Endlösung der Judenfrage gemacht und also mit vernichtender Konsequenz bewiesen hatten, dass das Ganze nicht „in erster Linie eine Frage der Nichtjuden“ war, sondern vollständig eine der Antisemiten; warum die Juden also nicht einmal in ihrem eigenen Land Ruhe haben, das wissen die darüber angeblich so Bekümmerten ganz genau: Sie tragen letztlich selbst die Schuld. Schließlich sind doch „die Kernpunkte für eine Lösung des zentralen Konflikts mit den Palästinensern international im Wesentlichen erkannt“ und hat „der größte Teil der arabisch bzw. islamisch geprägten Staaten inzwischen seine Bereitschaft signalisiert, sich mit Israel zu arrangieren oder sogar auszusöhnen“. Was die Verfasser mit „Kernpunkten“ meinen, ist dabei unschwer zu erraten – die Besatzung natürlich –, wohingegen man schon gerne erführe, worauf sich eigentlich die Ansicht stützt, „der größte Teil der arabisch bzw. islamisch geprägten Staaten“ zeige sich kompromissbereit. Allein: Die Belege für diese überaus gewagte These fehlen in Gänze.

Das ist kein Zufall. Denn Bernstein, Brumlik, Krell und ihre Unterstützer sehen im israelischen Handeln die Ursache nahezu allen Übels. „Verbaut“ erscheint ihnen „der Weg zum Frieden im Rahmen einer Zweistaatenregelung“: „Verbaut im buchstäblichen Sinne durch ein schier unaufhaltsames Wachstum der Siedlungen und den Verlauf der so genannten Trennungsmauern in der Westbank und in Ost-Jerusalem“ – wobei zum einen der Gaza-Abzug aus Sicht der Autoren offenbar keine Rolle spielt und zum anderen die Tatsache, dass der Sperrzaun nachweislich die Sicherheit von Israels Bürgern vor Selbstmordattentaten deutlich verbessert hat, augenscheinlich vernachlässigt werden kann. „Verbaut aber auch im übertragenen Sinne durch Strategien gewaltsamer Vergeltung auf beiden Seiten, durch einen dramatischen wechselseitigen Vertrauensverlust, durch einen wachsenden politisierten religiösen Fundamentalismus, der sich jeglichen Kompromissen versagen will, und schließlich durch die geringen internen Handlungsspielräume, die die innenpolitischen Gegner eines Friedensprozesses, der diesen Namen verdient, den Verhandlungspartnern lassen.“ Was sich da so staatsmännisch und ausgleichend gibt, ist bloß die handelsübliche Äquidistanz: Israels Selbstverteidigung gegen die Hamas, den Islamischen Djihad und andere Mordgesellen wird mit den Terrorangriffen dieser Banden auf eine Stufe gestellt, zu einem „wechselseitigen Vertrauensverlust“ und einem „politisierten religiösen Fundamentalismus“ eingeschmolzen und somit de facto in Abrede gestellt.

Und das mit Absicht: „60 Jahre Staat Israel, das sind seit 1967 auch über vierzig Jahre Besetzung arabischer Territorien.“ Damit gefährde der jüdische Staat „auf Dauer möglicherweise sogar seine Existenz“, halte „die Welt zum Narren“ und merke – im Gegensatz zu seinen schwer besorgten Freunden natürlich – außerdem nicht, „dass es sich damit selbst betrügt“. Denn: „Die Besetzung verletzt Tag für Tag die Menschenrechte der Palästinenser und ihr Recht auf Selbstbestimmung und schadet damit auch der rechtsstaatlichen und der moralischen Integrität Israels.“ Welcher Schaden Israel regelmäßig entsteht, wenn die Palästinenser ganz menschenrechtlich, selbstbestimmt, rechtsstaatlich und moralisch integer Raketen abfeuern, davon ist in diesem vermeintlichen Geburtstagsständchen nicht die Rede. Und dass die vollständige Aufgabe der umstrittenen Gebiete dem jüdischen Staat vielleicht ein paar Sympathiepunkte bei notorischen deutschen Friedensfreunden verschaffen, nicht aber seine Sicherheit erhöhen würde, kommt den Gratulanten ebenfalls nicht in den Sinn.

Stattdessen glänzen sie mit wahrlich profunden historischen Kenntnissen: „Die Konflikte zwischen Juden und Arabern in Palästina während der britischen Mandatszeit mündeten in den Bürger- und dann Staatenkrieg von 1947-49“, schreiben sie weiter. Dort steht tatsächlich allen Ernstes und ganz unschuldig „mündeten“, so, als ob es die Ablehnung des UN-Teilungsplans durch die arabischen Staaten nie gegeben hätte; so, als ob letztere nicht den soeben ausgerufenen Staat Israel angegriffen und ihn damit zur Verteidigung gezwungen hätten – was durch den alles einebnenden Terminus „Bürger- und Staatenkrieg“ zusätzlich vernebelt wird. Aber das ist noch nicht alles, denn auch den „Narrativ“ von der „Nakba“ wissen die Verfasser formvollendet zu orchestrieren: „Die Gründung des Staates Israel war eine Geburt in Flammen. Für die arabischen Bewohner führten Krieg und Niederlage in die ‚Katastrophe’ aus Flucht und Vertreibung von 750.000 Menschen.“ Was die Schaffung des jüdischen Staates für die Juden bedeutete, ist da 60 Jahre später nicht weiter der Rede wert, genauso wenig wie die Vertreibung von rund 800.000 Juden aus den arabischen Staaten nach 1945.

Dafür heben die Autoren jedoch umso deutlicher hervor, „dass der staatsbildende Zionismus, der aus internen Problemen Europas hervorgegangen und dort entstanden ist, auf die Zustimmung seiner arabischen Nachbarn angewiesen bleibt“. Man muss diesen Satz noch einmal lesen, um seine ganze Dimension zu erfassen: Der „staatsbildende Zionismus“ – also jene auf Herzl zurückgehende Idee, die erst nach der Vernichtung der europäischen Juden Wirklichkeit wurde – ist „aus internen Problemen Europas hervorgegangen und dort entstanden“. Euphemistischer und damit dreister hat selten jemand die Shoah umschrieben, und die Botschaft lautet deshalb, wie schon beim Manifest „Freundschaft und Kritik“: Irgendwo sind die Palästinenser doch auch Opfer des Holocausts, weshalb man wenigstens ihre „Zustimmung“ einholen müsse. Wie das geht? Mit dem altbekannten Rezept aus dem Kochbuch des Antizionismus: „Nur durch die grundsätzliche Zurücknahme der Siedlungen in der Westbank, durch die Schaffung eines unabhängigen und entwicklungsfähigen Staates Palästina, durch die Etablierung Jerusalems als Doppelhauptstadt zweier nationaler Souveränitäten sowie durch eine abschließende Regelung für die palästinensischen Flüchtlinge besteht Aussicht auf einen Frieden, der Gewalt und Terror die Legitimationsgrundlage entzieht und sie so dauerhaft überwindet.“

Und da besteht Hoffnung, glaubt man Bernstein, Brumlik, Krell und ihrer Gefolgschaft: „Diese Einsicht ist unter Israelis und Palästinensern inzwischen weit verbreitet.“ Deshalb wohl haben letztere zu Beginn des Jahres 2006 auch mehrheitlich die Hamas gewählt, denn die setzt sich bekanntlich besonders nachdrücklich für die genannten Ziele ein. Dennoch scheint es den Schöpfern der „Erklärung zum 60. Jahrestags der Staatsgründung Israels“, als seien Israelis wie Palästinenser „ohne nachhaltige Hilfe von außen nicht oder nicht mehr in der Lage“, friedlich miteinander umzugehen. Also müssten sich „Politik und Öffentlichkeit in Deutschland“ stärker einmischen und dabei „generell die unabweisbaren Verpflichtungen, die sich aus der historischen Verantwortung für das jüdische Volk ergeben, deutlicher von der politischen Analyse und einer auf Frieden gerichteten Politik in der Region unterscheiden“. Mit anderen Worten: Auschwitz war gestern, heute ist „Israelkritik“. Und die ist natürlich schwer konstruktiv, denn „nach unserer Auffassung bleiben die von allen Bundesregierungen permanent beschworenen besonderen Beziehungen zu Israel hohle Rhetorik, wenn sie keine politischen Konsequenzen nach sich ziehen.“

Damit ist nun aber nicht etwa gemeint, die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zum Iran abzubrechen, die Zahlungen an die Palästinenser einzustellen (weil sie ohnehin bloß für weitere Waffenbeschaffungen verwendet werden) oder die Forderung nach einer Entwaffnung der Hamas, der Fatah, des Islamischen Djihad und der Hizbollah zu bekräftigen – ganz im Gegenteil: „Dazu gehört mehr als die regierungsamtliche Beteiligung an umfangreichen Finanztransfers an die Palästinensische Autonomiebehörde, beim Aufbau wirtschaftlicher, administrativer und polizeilich-exekutiver Infrastrukturen und am Krisen-Management in akuten Fällen.“ Nämlich dies: „Deutschland sollte gemeinsam mit den anderen Staaten in der Europäischen Union eine friedenspolitische Führungsrolle übernehmen“ und sich „im Rahmen der EU oder der Vereinten Nationen auf weitere und umfangreichere Aktivitäten im Bereich der Vermittlung und der Friedenssicherung einstellen“. Was diese „friedenspolitische Führungsrolle“ und die „Friedenssicherung“ inhaltlich bedeuten sollen, wird dabei gar nicht verhehlt: „Grundsätzlich heißt das [...], nicht nur bewaffnete Angriffe und die Infragestellung des Existenzrechts Israels von palästinensischer (oder anderer arabischer bzw. islamischer) Seite zu verurteilen, sondern auch zu einzelnen Aspekten der israelischen Politik nachdrücklich auf Distanz zu gehen.“

Auf Äquidistanz eben – denn eine nachdrückliche Unterstützung des israelischen Rechts auf Selbstverteidigung kommt selbstverständlich nicht in Frage, nicht einmal zum Geburtstag: „Auch im Jubiläumsjahr darf die deutsche Politik den Zusammenhang zwischen der extrem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Lage der Palästinenser auf der einen und der Unsicherheit und Bedrohung Israels auf der anderen Seite nicht aus den Augen verlieren.“ Der „Zusammenhang“, der hier behauptet wird, lässt sich auf die so beliebte wie falsche Formel bringen: Besatzung + Armut = Terror. Denn verantwortlich für ihr Tun dürfen die Palästinenser einfach nicht sein; wenn sie Raketen auf Sderot abfeuern, Selbstmordattentäter ausbilden und losschicken und dem jüdischen Staat nichts weniger als den Untergang wünschen, ist das halt so ihre Art, auf Unterdrückung, Hunger, Stromausfall und nicht abgeholten Müll zu reagieren. Und wenn „die deutsche Politik“ das nur endlich erkennt, wird alles gut: „Umso wirksamer kann die Bundesregierung nach außen den Anfeindungen einiger arabisch bzw. islamisch geprägter Länder entschieden entgegentreten. [...] Und umso wirksamer kann die Bundesregierung nach innen einem teilweise dramatischen Niedergang des israelischen Ansehens in der Bevölkerung begegnen.“ Kurz: Ein bisschen mehr „Israelkritik“ in Theorie und Praxis – schon hätten die Antisemiten aller Länder ein Einsehen und würden hier nicht mehr behaupten, die Israelis verführen mit den Palästinensern wie dereinst die Nazis mit den Juden, und dort aber sowas von subito ihre Vernichtungspläne ad acta legen.

So schlicht geht es zu im Oberstübchen deutscher Intellektueller, die am Schluss ihrer Erklärung rasch noch ein bisschen vor einer „kollektiven Dämonisierung oder gar Dehumanisierung des jüdischen Volkes in Israel“ und zum Ausgleich gleich auch vor „radikaler Islamkritik“ respektive „Islamophobie“ warnen, bevor sie den „Friedensgruppen“ salbungsvoll mit auf den Weg geben, nicht immer nur „die innerisraelische Kritik an der eigenen Politik“ zu „spiegeln“ – sich also nicht ständig bloß auf jüdische Kronzeugen zu stützen –, sondern auch „ihre Partner auf beiden Seiten des Konflikts zu Schritten des Ausgleichs [zu] ermutigen und sie politisch wie praktisch [zu] unterstützen“. Nach so vielen ungezügelten moralisch-pädagogischen Impulsen folgt dann noch der finale Hinweis: „Diese Unterstützung wird nur wirksam sein, wenn sie dabei ihre moralisch-pädagogischen Impulse zügeln.“ Das allerdings dürfte noch schwerer sein, als den Nahostkonflikt zu lösen. Oder einen Esel ohne Bruchlandung wieder vom Eis zu holen.

22.4.08

Alle Mullah außer Vati

Folgt man der Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur, dann ist sowohl die Situation im Iran als auch die Gefahr, die außenpolitisch von ihm ausgeht, eigentlich bloß halb so wild. Schon vor knapp vier Jahren vermeldete sie in der Süddeutschen Zeitung nachgerade elementare Menschenrechtsfortschritte im Land der Mullahs: Zum einen würden dort des vorehelichen Geschlechtsverkehrs bezichtigte sechzehnjährige Mädchen nun nicht mehr gesteinigt, sondern nur noch erhängt – was nicht näher bezeichnete „iranische Menschenrechtler“ laut Amirpur (Foto) für „einen Schritt in die richtige Richtung“ hielten, weil sich darin eine „Abkehr vom angeblich unflexiblen Korsett des islamischen Rechts“ zeige. Zum anderen sei „das offizielle Heiratsalter nach zähem Ringen zwischen Reformern und Konservativen von neun auf zehn Jahre erhöht worden“. Ein glanzvoller Sieg der Humanität also, schwer und womöglich verlustreich erkämpft von den besagten „Reformern“, die im Westen bekanntlich so sehr geschätzt werden. Und in der Tat könnte doch alles viel schlimmer sein – die Mullahs hätten schließlich auch das Teeren und Federn für vor- und außereheliche Liebesakte befehligen und die Kurzen schon im Kindergartenalter unter die Haube bringen können.

Im gleichen Blatt verkündete die Iranistin unlängst eine weitere gute Nachricht: Mahmud Ahmadinedjad habe gar nicht, wie immer wieder kolportiert werde, die Vernichtung Israels gefordert, sondern lediglich geäußert, das „Besatzerregime“ in Israel müsse „Geschichte werden“; er habe also nicht zum Vernichtungskrieg aufgerufen, sondern nur dafür plädiert, „die Besatzung Jerusalems zu beenden“. Man darf sich deshalb erleichtert zurücklehnen: Der iranische Präsident ist kein Antisemit, sondern bloß ein ganz normaler „Israelkritiker“, so wie auch die von Ahmadinedjad und seiner Gefolgschaft finanzierten Musterdemokraten der Hamas und der Hizbollah in Wahrheit gar nicht den jüdischen Staat von der Landkarte tilgen, sondern nur mit ein paar harmlosen Raketen und Selbstmordattentätern ihrer Besorgnis über die israelische Besatzung ein bisschen Nachdruck verleihen wollen. Na gut, Ahmadinedjad ließ den angeblichen Übersetzungsfehler auch auf Nachfrage bestehen, wie Katajun Amirpur am Schluss ihres akribisch recherchierten Freispruchs einräumt. Aber Schweigen ist ja bekanntlich Gold.

Im Ernst: Die Vernichtungsabsichten der Mullahs gegenüber Israel mit einer solchen hemdsärmeligen und im Übrigen höchst umstrittenen Beweisführung dementieren zu wollen, ist je nach Intention dieser Übung entweder grenzenlos naiv, eine dreiste Verharmlosung oder gleich die bekennende Solidarisierung mit dem Terrorregime in Teheran – wobei alle drei Möglichkeiten letztlich auf das Gleiche hinauslaufen. Henryk M. Broder brachte Sinn und Unsinn dieser Übung mit einem historischen Vergleich auf den Punkt: „Der ‚Führerbefehl’ zur Endlösung der Juden- und Zigeunerfrage ist bis heute nicht gefunden worden. [Hitler] hat nur dazu aufgerufen, die Welt von den Juden zu befreien. Von Vernichtung war keine Rede. So wie Ahmadinedjad sich heute eine ‚World without Zionism’ wünscht.“ Über Katajun Amirpur urteilte er deshalb: „Sie hat sich darauf spezialisiert, die verlorene Ehre des Mullah-Regimes wiederherzustellen.“ Und das sei sozusagen ein Familienanliegen, denn Mahmud Ahmadinedjad sei „ein guter alter Bekannter ihres Vaters“.

Wegen dieses Nebensatzes ließ Amirpur dem Publizisten nun über ihren Anwalt die Aufforderung zukommen, eine Unterlassungserklärung abzugeben. Der Vater der Islamwissenschaftlerin habe nie Kontakt zum derzeitigen iranischen Präsidenten gehabt, weshalb von einer guten Bekanntschaft keine Rede sein könne, heißt es in dem Schreiben; Broders Absicht sei es daher, den Eindruck zu erwecken, Katajun Amirpur habe gute Gründe für eine Reinwaschung Ahmadinedjads. Das jedoch verfälsche ihr „Lebensbild“, weshalb Broder sich verpflichten soll, die beanstandete Aussage künftig nicht mehr zu treffen und außerdem Amirpurs bislang entstandene Rechtsanwaltskosten zu zahlen.

In der Tat ist es fraglich, ob Manutschehr Amirpur-Arandjani eine enge Verbindung zum iranischen Präsidenten pflegt oder nicht. Im Online-Lexikon Wikipedia war eine Zeit lang zu lesen, er sei Kulturattaché sowohl unter dem Schah als auch unter dem Ayatollah Khomeini gewesen; diese biografische Angabe ist inzwischen entfernt worden, sie findet sich allerdings noch auf diversen anderen Websites. Zudem hat Amirpur-Arandjani 1986 das Buch „Der Koran im Islam“ übersetzt und 2000 ein „Wörterbuch der Islamwissenschaft“ veröffentlicht – beides für die Kulturabteilung der iranischen Botschaft in Deutschland. Ein Oppositioneller ist er also gewiss nicht; inwieweit er darüber hinaus Mahmud Ahmadinedjad verbunden war oder ist, lässt sich nicht nachweisen.

Letztlich ist die Klärung dieser Frage für eine Einschätzung des Wirkens von Katajun Amirpur jedoch genauso bedeutungslos wie die Wortklauberei in Bezug auf das Ahmadinedjad-Zitat für eine Bewertung des iranischen Präsidenten. Gleich, ob Amirpurs Vater nun dessen Vertrauter ist oder nicht – das publizistische Schaffen seiner Tochter bietet genügend Material, um Broders Urteil, sie habe „sich darauf spezialisiert, die verlorene Ehre des Mullah-Regimes wiederherzustellen“, hinreichend plausibel zu machen. Von einer Verfälschung des „Lebensbildes“ der Islamwissenschaftlerin kann jedenfalls keine Rede sein; schließlich ist sie es selbst, die die Vernichtungspläne der Teheraner Theokraten gegenüber Israel schlicht leugnet und es allen Ernstes für ein positives Zeichen hält, wenn vor- oder außerehelicher Sex nicht mehr mit Steinigung, sondern dem Erhängen bestraft wird und Kinder jetzt ein zweistelliges Alter aufweisen müssen, bevor man sie zwangsverheiratet.

Der Krieg, den Katajun Amirpur da um jeden Preis verhindern will, ist übrigens seit Jahren in vollem Gange: Die Mullahs führen ihn innenpolitisch gegen die eigene Bevölkerung und außenpolitisch über ihre Vorfeldterrorgruppen Hizbollah und Hamas gegen Israel. Man kann es nicht einmal mehr Appeasement nennen, was die promovierte Koranexegetin betreibt – es ist eine Form von Kollaboration. Leider ist das hierzulande nicht strafbar – ansonsten könnte man glatt versucht sein, sie eine Unterlassungserklärung unterschreiben zu lassen.

21.4.08

Nem kérünk a Nácikbol!

Schon seit längerer Zeit terrorisieren ungarische Neonazis vor allem in Budapest immer wieder Menschen, die nicht in ihr extrem beschränktes Weltbild passen. Doch inzwischen regt sich organisierter Widerstand dagegen. Karl Pfeifer schildert im folgenden Gastbeitrag für Lizas Welt, was sich in jüngster Zeit in der Hauptstadt Ungarns zutrug, und er hat darüber hinaus einen in der Zeitschrift Szombat erschienenen Bericht des Journalisten János Gadó über die erste von zwei antifaschistischen Demonstrationen aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt.

Von Karl Pfeifer, 13. April 2008

Die ganze Affäre begann am 20. März dieses Jahres, als eine junge Frau im Kartenbüro Broadway in der Hollán-Ernö-Straße im XIII. Budapester Bezirk zehn Tickets für das Konzert der rechtsradikalen Band Hungarica kaufen wollte. Vom anschließenden Geschehen existieren zwei verschiedene Versionen: die des Geschäftsführers dieses Büros und die der berüchtigten Neonazi-Website kuruc.info. Die Neonazis behaupten, das „ungarische Mädchen“ sei nicht bedient, sondern lautstark als Faschistin beschimpft und aus dem Büro geworfen worden. Doch letztlich ist das ohne Belang, denn kurze Zeit später wurde ein Molotowcocktail auf das Geschäft geworfen, das daraufhin ausbrannte. Die Nationale Befreiungsarmee Pfeile der Ungarn bekannte sich zu dieser kriminellen Tat, so wie sie sich in der Vergangenheit bereits zum Zusammenschlagen des ehemaligen sozialistischen Abgeordneten Sándor Csintalan bekannt hatte. Der Name der rechtsradikalen Organisation ist ein Hinweis auf die Pfeilkreuzler, die Ende 1944 und Anfang 1945 eine Schreckensherrschaft in Ungarn ausübten.

Auf der Internetseite ZeneSzöveg („Texte der Musik“) fand die Budapester Tageszeitung Népszabadság einige einschlägige Texte des Ensembles Hungarica. Ich übersetze davon lediglich einen, der auch auf Ungarisch nicht anders klingt als in der Übersetzung:
Demokratur

Lautstark klingt die Stimme der Antiungarn, fremde zivile Kosmopoliten,
in deren Auge die Glut des Hasses brennt, die Peitsche der Söldner schneidet in dein Fleisch.
Wenn es auf sie ankäme, dann würden sie Szózat [die patriotische Hymne, K.P.] und die Nationalhymne verbieten,
die Marionettenfiguren mit blutigen Händen veranstalten für uns einen Zirkus.
Lautstark klingt die Stimme der Antiungarn, Tag und Nacht, überall,
Hirn und Körper waschend, vergiftend eine verdorbene Zeit.
Sekt und Kaviar gebührt dem, den nie die Wunde Trianon [dort unterzeichnete der Außenminister des Horthy-Regimes 1920 den Friedensvertrag, K.P.] schmerzte, seine Nadel und sein Schwert, der Giftzahn der Demokratur.

Refrain:
Geistiger Terror belagert, der Bulldozer der Demokratur.
Er zerstört alles, bis es Staub wird, wenn du in deiner eigenen Heimat kein Wort hast.
In einem anderen Lied wird offener Revisionismus zum Ausdruck gebracht: „Die Stadt Pressburg (Bratislava, Pozsony) wird noch ungarische Könige sehen“, und man werde nie auf eine Reihe von slowakischen Städten verzichten, heißt es dort.

Ungarische Neonazis wollten anscheinend für das Konzert werben, das ebenfalls mit „Demokratur“ betitelt war und am 11. April stattfand. Vier Tage zuvor war es zu einem denkwürdigen Aufmarsch dieses Gesindels unter der Leitung des Unternehmers Tamás Polgár gekommen, der als Schnittlauch auf allen rechtsextremistische Suppen schwimmt und sich „Tomcat“ nennen lässt (siehe auch den folgenden Beitrag von János Gadó). Er droht gleichwohl jeden wegen Verleumdung zu verklagen, der ihn als Faschisten bezeichnet. Doch erst unlängst hat er eine Hetzkampagne gegen einen jüdischen Jugendlichen begonnen, der am 15. März, dem Nationalfeiertag, eine Diskussion mit einem Mädchen hatte und dem „Tomcat” unterstellt, ihre Kokarde mit den Nationalfarben heruntergerissen zu haben. „Tomcat” erklärte: „Dieser Jude muss zusammengeschlagen werden, man muss ihn erniedrigen, man muss ihn kastrieren, damit seine Rasse sich schlussendlich besinnt, dass das hier nicht ihr Land ist. Das war es nicht und wird es nicht sein. [...] Du großmäuliger, dreckiger Jude! Wir werden ganz Budapest durchkämmen, um dich zu finden! Wir werden dich finden, auch wenn du dich unter der Erde versteckst, und wir werden deine Nieren kaputt schlagen! [...] Wir werden ein langes Band in den Nationalfarben beschaffen und dich damit aufhängen.”

Am Nachmittag des 11. April, an dem das Hungarica-Konzert stattfinden sollte, demonstrierten schließlich erneut die Neonazis vor dem Kartenbüro, das noch am Vormittag vom ungarischen Präsidenten László Solyom besucht worden war. Doch auch diesmal waren die Gegner der Rechtsradikalen gekommen und sogar in größerer Anzahl vertreten, den Regierungschef Ferenc Gyurcsány sowie den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeschlossen, der eine kurze Rede hielt. Die Neonazis marschierten schließlich zum Parlament; einige von ihnen demolierten am Denkmal für die sowjetischen Befreier der Stadt die Kränze.

Die konservative Partei Fidesz hat in der lokalen Behörde einen Vertreter mit israelischer und ungarischer Staatsbürgerschaft, der früher zehn Jahre lang in der israelischen Armee gedient hat. Er hat sich – und das ist hoch einzuschätzen – als Erster gegen die Zusammenrottung der Neonazis ausgesprochen. Freilich bedeutet eine Schwalbe noch keinen Sommer: Fidesz pflegt auch Querverbindungen zur rassistischen ungarischen Garde – beispielsweise, als bei deren Fahnenweihe die Fidesz-Abgeordnete Maria Wittner eine Rede hielt. Doch es gibt noch gefährlichere Erscheinungen. So attackierte unlängst Zsolt Bayer in der ehemaligen liberalen Tageszeitung Magyar Hirlap die Journalisten des linksliberalen politischen Lagers: „Es handelt sich bei ihnen um ‚Zweck-Juden’. Ihre bloße Existenz bestätigt den Antisemitismus. [...] Lassen wir sie entschieden nicht in das Bassin der Nation pinkeln oder hineinschnäuzen.“ Bayer hält Reden bei wichtigen Fidesz-Veranstaltungen und soll auch den ehemaligen Ministerpräsidenten Viktor Orbán beraten. Fidesz hat sich bislang nicht von ihm distanziert. Im Gegenteil zwei Tage nach Erscheinen dieses skandalösen Text zeigte ihn das Fernsehen bei einem Fest von Fidesz.

Besorgnis erregend ist auch die Haltung der christlichen Kirchen, deren Würdenträger die Fahnen der Ungarischen Garde geweiht haben. Am schlimmsten treibt es der calvinistische Pfarrer Lóránt Hegedüs junior, der vor einem Jahr in seiner Kirche am Deák Platz in der Mitte von Budapest David Irving empfangen hat und öffentlich fordert, Juden auszugrenzen. Vielleicht sollte man diejenigen evangelischen Akademien in Deutschland, die ständig „Kritik” am Staat Israel üben, einmal fragen, was sie diesbezüglich tun.

János Gadó

Nach dem Kampf, vor dem Kampf


Szombat, April 2008

Am 7. April verteidigten wir Újlipótváros, ein [ehemaliges, K.P.] jüdisches Zentrum in Budapest. An der Ecke der Hollán-Ernö-Straße stoppten wir die Leute mit den schwarzen Uniformen. Um die Angst und die „Es ist besser, nichts zu tun“-Mentalität zu bekämpfen, organisierten sich Budapester Juden, Liberale, Linke und einige Konservative und warteten auf die Rechtsradikalen, die „Tickets kaufen“ wollten.

Eine in ultrarechten Kreisen bekannte Frau hatte eine Diskussion mit den Angestellten einer Kartenverkaufsstelle in der Hollán-Ernö-Straße. Auf rechtsradikalen Websites behauptete sie anschließend, beleidigt worden zu sein. Man habe zu ihr gesagt: „Ungarn werden in diesem Geschäft nicht bedient!“ Eine Woche später warf jemand einen Molotowcocktail auf den Laden. Da dessen Eigentümer „selbst daraus nichts gelernt“ habe, trommelte „Tomcat“ alias Tamás Polgár (Foto), der verrufene Blogger, seine Gefolgschaft zusammen und wies sie an, in Naziuniformen zu dem Geschäft zu marschieren, um „Tickets zu kaufen“.

Sie sind voller Tatendrang. Seit 2006 dominiert die Rechte in den Straßen von Budapest. Für sie ist es daher nur folgerichtig, zu glauben, sie könnten auch in Újlipótváros zeigen, dass ihnen die Straßen gehören. Bislang begingen sie nur nachts während der nationalen Feierlichkeiten ihre „revolutionären Akte“ im Stadtzentrum. Mittlerweile halten sie die Zeit für gekommen, um dies auch am helllichten Tage und genau hier zu tun. Weil sie fantasieren, die Ungarn würden ausgeschlossen! Das heißt: Weil vergleichsweise viele Juden hier leben.

Es ist bekannt, dass die Neonazis einschüchtern wollen. Aber es gibt Menschen, die diese Gefahr erkannt haben, sie nicht tolerieren wollen und sich deshalb organisiert haben. Etliche E-Mails wurden verschickt, und jüdische Websites boten ein Forum an. Viele vernünftige Menschen erfuhren auf diese Weise, was geplant war. György Szabó, der konservative Fidesz-Repräsentant des XIII. Bezirks im Stadtrat, informierte die Behörden und die Stadt davon, dass man demonstrieren werde, und er war selbst vor Ort, um in Kontakt mit den Behörden und anderen Menschen zu bleiben. Auch Politiker anderer Parteien kamen, um ihren Bezirk zu verteidigen.

Die versammelten 30 Skinheads wurden von 400 Gegendemonstranten empfangen. Die Neonazis, die auf die Kartenverkaufsstelle zumarschierten, wurden von der Polizei gestoppt, ihre Ausweise wurden kontrolliert, und sie wurden aufgefordert, den Ort wieder zu verlassen. „Nazis go home!“, riefen die Demonstranten, und die Skinheads antworteten: „Wir sind hier zu Hause!“ Die Demonstrationsteilnehmer waren froh, die Polizei in ihrer Nähe zu haben.

„Tomcat“ erklärte, er könne hier keine Tickets kaufen, weil er Ungar sei, und das verletze seine demokratischen Rechte. Nach einer zehnminütigen, lautstarken Diskussion verzogen sich die Neonazis, und die Demonstranten applaudierten. „Tomcat“ kehrte mit einigen seiner Getreuen jedoch wieder zurück und knipste Fotos aus der fünften Etage eines Gebäudes. Als die Skinheads wiederkamen, wurden sie von der Polizei zurückgedrängt. Sie fühlten sich dadurch beleidigt, dass die Polizei die Menschen mit den Rasta-Haaren verteidigt.

Bleiben wir für einen Moment bei dem T-Shirt mit dem Foto von Hitler (Bild rechts). Was kann man wohl von einem Zeitgenossen (und seinen Freunden) erwarten, der Újlipótváros mit solch einem Kleidungsstück betritt?

Die ungarischen Medien hatten sich zur Kartenverkaufsstelle begeben, um sich die beiden verschiedenen Versionen des Vorfalls anzuhören. Sie glaubten, so die Wahrheit herauszufinden. Wahrscheinlich war alles nur ein Missverständnis. Wahrscheinlich kann man den Konflikt lösen. Wahrscheinlich ist das Verhältnis zwischen Juden und Neonazis aufgrund eines Missverständnisses so angespannt. „Ist es nicht möglich, dass Sie zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“, fragte der Reporter der [liberalen, K.P.] Wochenzeitung HVG den Journalisten Péter Rózsa, einen der Organisatoren der Demonstration, und deutete dabei auf „Tomcat“. Rózsa weigerte sich, mit den Neonazis zu sprechen. Daher fragte HVG „Tomcat“, wie das Land aussähe, wenn er Regierungschef in Ungarn wäre:

„Tomcat“: „Es wäre voller Ruinen, voller jüdischer Leichen und Babys, die gegen die Mauern geworfen wurden. Die schwarz gekleideten Todesbrigaden würden Andersdenkende mit Speeren durchbohren.“ – HVG: „Das war ironisch; ich habe aber ernsthaft gefragt.“ – „Tomcat“: „Nein, das ist keine Ironie, das ist genau das, was ich tun will und was ich ersehne.“

Zu den Fotos (von oben nach unten): (1) Antifaschistische Demonstration am 11. April 2008 in Budapest; auf dem Transparent steht: „Wir brauchen keine Nazis!“ (2) Das Plakat, mit dem für das Konzert der rechtsradikalen Band Hungarica geworben wurde. (3) „Tomcat“ alias Tamás Polgár, eine führende Figur in der ungarischen Neonaziszene. (4) Ein ungarischer Neonazi mit einem Hitler-T-Shirt, der an der rechtsradikalen Demonstration am 7. April in Budapest teilnahm.

14.4.08

Zu Gast bei Freunden

Lizas Welt freut sich über die große Ehre, für den vorzüglichen Blog Spirit of Entebbe einen Gastbeitrag verfasst haben zu dürfen:

Henrys Halluzinationen
Wenn man die Beiträge überregionaler deutscher Printmedien zum Thema Israel halbwegs regelmäßig studiert, kommt man um eine Erkenntnis nicht herum: Sowie es darum geht, die eigenen Korrespondenten samt ihrer Berichte durch so genannte Experten politisch und moralisch zu salvieren, sind es die immer gleichen Kronzeugen, die von FAZ bis taz und vom Spiegel bis zur Frankfurter Rundschau zum Interview oder an die Tastatur gebeten werden. Mal ist es Uri Avnery und mal Felicia Langer, mal Alfred Grosser und mal Moshe Zuckermann, mal Evelyn Hecht-Galinski und mal Rolf Verleger. Diese Damen und Herren haben dabei zwar stets nur die gewohnten frenetischen Anklagen gegen den jüdischen Staat zu bieten, aber die Stammkundschaft schätzt an ihrer Lieblingszeitung ja vor allem die Verlässlichkeit, mit der vertraute Positionen immer wieder aufs Neue heruntergebetet werden – schließlich ist die Wiederholung die Mutter aller Weisheit. Gelegentlich ist dieses Ritual aber sogar den Chefredakteuren zu fad, und immer dann ist es Zeit für eine so genannte Außenansicht, also für einen ins Deutsche übersetzten Artikel eines vermeintlichen Experten, den die Leser zwar noch nicht kennen, der aber qua Funktion und Herkunft für reichlich Authentizität bürgen soll. [...]
WEITERLESEN bei Spirit of Entebbe

Utopist aus Leidenschaft

Es ist an der Zeit, eine Lanze für Oliver Kahn zu brechen. Es ist an der Zeit, ihm den roten Teppich auszurollen. Es ist an der Zeit, ihm ein Denkmal zu bauen. Nichts weniger. Und das nicht einmal in erster Linie wegen seiner (ohnehin unbestrittenen) fußballerischen Leistungen und Erfolge, nicht wegen seiner zahllosen Glanzparaden und Rettungstaten als Torwart. Sondern einfach, weil er auf dem Platz genau das verkörpert, was sich jeder aufrichtige Fußballfan wünscht: bedingungslose Leidenschaft. Auch in dieser Hinsicht kann ihm kaum jemand das Wasser reichen – und das ist mitnichten eine Frage von Sympathiewerten. Oliver Kahn darf man wohl – neben Bayern-Manager Uli Hoeneß – als größten Anhänger seines Klubs bezeichnen. Er ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit und Langeweile, Eintönigkeit und Dienst nach Vorschrift. Seine Mimik und Gestik während des Spiels und danach – von der Freude über den Frust bis zur Fassungslosigkeit – sind ein getreues Spiegelbild der vielfältigen Gemütsverfassungen, die man als Fan ebenfalls durchlebt. Und sie sind es wie bei kaum einem anderen. Nebenbei widerlegt Kahn außerdem das landläufig gepflegte Vorurteil, nach dem es beim deutschen Rekordmeister FC Bayern München aufgrund der Gewöhnung an den Erfolg mehr oder weniger emotionslos zugehe. Das Gegenteil ist der Fall.

Nichts verdeutlicht das besser als das UEFA-Cup-Spiel der Bayern am vergangenen Donnerstag in Getafe. Dass sich Kahn beim mutmaßlich letzten Angriff der Münchner zum gegnerischen Tor aufmachte, war zunächst nur ein Akt der Verzweiflung: das allerletzte Mittel, der allerletzte Versuch, um das fraglos blamable Ausscheiden in einem Madrider Vorort – und damit das vorzeitige Ende der eigenen Laufbahn auf internationaler Ebene – doch noch zu verhindern. Dass der fußballerisch stark limitierte Keeper in der Offensive ernsthaft noch etwas ausrichten können würde, glaubte er dabei zweifellos selbst nicht. Aber die Symbolwirkung, die von seinem entschlossenen Ausflug ausging, war umso mächtiger: Mochten sich seine Mannschaftskollegen bis dato auch durch eine spielerisch unterirdische Leistung ausgezeichnet haben und das Weiterkommen selbst nicht mehr für realistisch halten – solange der Schiedsrichter nicht abpfeift, geht für Oliver Kahn immer noch etwas, wie unwahrscheinlich das auch sein mag. Jeder Fußballfan hofft und bangt, dass sein Team selbst ein vollkommen aussichtslos scheinendes Spiel doch noch dreht, notfalls durch ein unverdientes Glückstor in buchstäblich letzter Sekunde. Und Kahn ist geradezu der Prototyp des Fleisch gewordenen Glaubens an das Unmögliche.

Das Finale des Spiels in Getafe erinnerte dabei nicht zufällig stark an jenes, das sich am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 2000/01 zugetragen hatte. Damals kassierten die Bayern beim Hamburger SV in der 90. Minute das 0:1, und wäre es dabei geblieben, hätte bekanntlich Schalke 04 die Meisterschale in die Vitrine stellen dürfen – die Feiern in Gelsenkirchen waren bereits im Gange. Die Bayern-Spieler ließen nach dem späten Gegentor die Köpfe hängen, und auf der Bayern-Bank herrschte lähmendes Entsetzen: Erneut drohte der Klub – wie schon zwei Jahre zuvor im Champions League-Endspiel gegen Manchester United – im allerletzten Moment einen bereits sicher geglaubten Titel noch zu verspielen. Doch Oliver Kahn gebar just in dieser Situation sein inzwischen berühmt gewordenes „Weiter, immer weiter“ und zwang seine Mitspieler förmlich dazu, das eigentlich Utopische mit aller schwindenden Kraft zu versuchen. Als Referee Markus Merk dann in der Nachspielzeit auf indirekten Freistoß für die Bayern im Strafraum des HSV entschied, sprintete der Torhüter zum Ort des Geschehens und verunsicherte die Hamburger Spieler bereits durch seine bloße physische Präsenz dermaßen, dass Patrik Andersson den Freistoß schließlich versenkte und die Münchner doch noch den Meistertitel gewannen.

Auch in Getafe tauchte Kahn kurz vor dem drohenden Schlusspfiff am gegnerischen Strafraum auf, und erneut irritierte alleine dies die Spieler der Gastgeber entscheidend: Die folgende Flanke köpfte der neben Kahn stehende Spanier fahrig zu Bayerns Sosa, der den Ball schließlich maßgerecht auf den Kopf von Luca Toni beförderte. Kahns völlig enthemmter emotionaler Ausbruch nach diesem geradezu erzwungenen Treffer zum 3:3 und dem Einzug ins Halbfinale – mit entrücktem Gesichtsausdruck, weit ausgebreiteten Armen und einem zunächst ziellosen Lauf über das Feld – wies übrigens weitere Ähnlichkeiten zu dem Spiel in Hamburg vor sieben Jahren auf, obwohl diesmal nicht eine Eckfahne die geballten Emotionen des Keepers zu spüren bekam, sondern Mitspieler Mark van Bommel. Mag die Bedeutung eines Viertelfinalspiels im UEFA-Pokal auch nicht das Gewicht einer Deutschen Meisterschaft erreichen – die Partie in Getafe und vor allem jene letzte Minute der Verlängerung taugen bereits jetzt zur Legende, deren Sinnbild weniger der Torschütze Luca Toni ist als vor allem Oliver Kahn, der so außer Rand und Band geriet wie sonst nur noch die Bayern-Fans. Wen das kalt lässt, der hat einfach kein Fußballerherz.

Man muss den 38-jährigen Torwart gewiss nicht sympathisch finden; schließlich haben vor allem dessen Interviews bisweilen die Grenzen des Erträglichen überschritten. Aber entscheidender als das ist allemal, dass Kahn nie beliebig oder austauschbar ist, sondern eine kantige und polarisierende Individualität ausstrahlt, die mit einem im Profifußball nur noch selten gesehenen und manchmal eben ungezügelten Temperament einher geht. Genau das ist oft als übersteigerter Ehrgeiz eines egozentrischen und rücksichtlosen Einzelgängers betrachtet worden, und daran ist Kahn ganz sicher nicht unschuldig. Er mag immer wieder mal ein Kotzbrocken sein, einerseits. Aber welcher Fußballfan hätte, andererseits, nicht gerne Spieler in den Reihen seiner Lieblingsmannschaft, die auch in scheinbar hoffnungslosen Situationen nicht aufgeben – und sei es um des persönlichen Erfolgs willen, der dann jedoch zu einem des ganzen Teams wird? Nur wenige Spiele bleiben Oliver Kahn noch bis zum Ende seiner Karriere. Eines ist aber jetzt schon sicher: Er wird fehlen – Freunden wie Feinden.

8.4.08

Calamity-Rey gibt Stoff

Österreich und die Schweiz richten im kommenden Sommer gemeinsam die Europameisterschaft im Fußball aus – aber nicht nur in dieser Disziplin marschieren die beiden Länder Seit’ an Seit’, sondern auch in Bezug auf die Kooperation mit dem iranischen Regime: Was dem einen der OMV-Deal ist, ist dem anderen nun der Vertrag der Elektrizitätsgesellschaft Laufenburg mit den Mullahs über die jährliche Lieferung von 5,5 Milliarden Kubikmetern Erdgas ab 2011. Die Teheraner Theokratie hat dabei mit der Übereinkunft nicht nur einen wirtschaftlichen Coup gelandet: „Die Außenhandelsbeziehungen sind stets auch ein Instrument, um im politischen Streit um das Nu­klearprogramm und gegen die US-amerikanischen und israelischen Isolierungsbemühungen propagandistische Erfolge zu erzielen“, konstatierte Stephan Grigat in der Jungle World. Zu der medienwirksamen Inszenierung des Abschlusses trug die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey maßgeblich bei, denn sie reiste eigens zur Ratifizierung des Kontrakts in die iranische Hauptstadt – und ließ sich dort im Kopftuch und mit einem strahlenden Lächeln gemeinsam mit Mahmud Ahmadinedjad ablichten (Foto oben). „Sie ist für diese Rolle durchaus prädestiniert“, befand Grigat, „hatte sie doch im Jahr 2006 der iranischen Regierung vorgeschlagen, in der Schweiz ein gemeinsames Seminar zur ‚unterschiedlichen Perzeption des Holocausts’ zu or­ganisieren, womit sie dem Regime in Teheran Interpretationsspielraum signalisiert und die Leugner und Relativierer der Shoah legitimiert hat“.

An dem Deal und Calmy-Reys Auftritt in Teheran hagelte es anschließend jedoch Kritik. Die US-Regierung etwa will Einblick in den Gasvertrag nehmen, um zu prüfen, ob er gegen die Sanktionsbestimmungen der Uno verstößt. Israel legte Mitte März offiziell Protest ein. Der Schweizerische Israeli­tische Gemeindebund verurteilte die Außenministerin scharf, und sogar Calmy-Reys Genossen bei der Sozialdemokratischen Partei (SP) geißelten die Vereinbarung sowie die Reise der Ministerin in den Iran. Auch exiliranische Organisationen sind entsetzt. In einem offenen Brief an Calmy-Rey beispielsweise schrieb Zahra Erfani von der Progressive Women Organization (PWO), ebenfalls SP-Mitglied: „Sie schließen einen Kontrakt mit einem fanatischen, frauenfeindlichen und terroristischen Regime, und dabei sabotieren Sie den schmerzhaften Kampf iranischer Frauen für ihre Mindestrechte. Sie haben dadurch, dass Sie als Zeichen des Appeasements das Kopftuch trugen, teures Lehrgeld an das despotische, faschistische, reaktionäre, mittelalterliche, korrupte und kriminelle Mullah-Regime gezahlt.“ Dieses Regime, „das Dissidenten steinigt, deren Hände und Füße amputiert und seine Gegner öffentlich erhängt“, verdiene keinerlei Legitimation. Lizas Welt hat Erfanis Schreiben aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.


Zahra Erfani

Offener Brief an Micheline Calmy-Rey


Ihre Exzellenz,
liebe Frau Calmy-Rey!

Ich bin eine iranische Frau im Schweizer Exil, und es ist mir eine Ehre, Mitglied der SP zu sein. Auf Ihre sozialen Fähigkeiten war ich einmal sehr stolz.

Seit etwa 22 Jahren kann ich den Iran nicht mehr besuchen. Ich musste mein Land verlassen, so wie Millionen meiner Landsleute. Mir wurde das grundlegende Recht genommen, meine Kleidung selbst zu wählen; stattdessen hatte ich einer staatlichen Kleiderordnung zu gehorchen. Mit totalitären Gesetzen werden iranischen Frauen zudem viele weitere Rechte geraubt, beispielsweise die Reisefreiheit, die freie Wahl des Arbeitsplatzes, die Möglichkeit der Ehescheidung, das Sorgerecht für Kinder, das Recht zu tanzen, Opern zu singen, jeden Sport auszuüben, an den Olympischen Spielen teilzunehmen und frei im Meer zu schwimmen. Die Konsequenz daraus ist eine Geschlechterapartheid, in der die iranischen Frauen als Menschen nur halb so viel wert sind wie die Männer. Ein Jahrhundert lang haben Frauen dafür gekämpft, ihre Kleidung frei wählen zu können, aber sie haben in den letzten 30 Jahren alles verloren, durch fortgesetzte Inhaftierung, Folter und Mord.

Liebe Micheline Calmy-Rey, ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass es – anders, als Sie am 3. April bei der Eröffnung des Gleichstellungskongresses im Zürcher Volkshaus behauptet haben – nicht nur ein dünnes Stück Stoff war, das Sie da auf Ihrem Kopf trugen, sondern vielmehr ein Affront gegen alle Versuche und Bemühungen von Frauen im Iran und anderen Ländern in der Region, die freie Wahl ihrer Kleidung durchzusetzen und aufrecht zu erhalten.

Womit Sie Ihr Haar bedeckt haben, ist das Symbol für die Demütigung der iranischen Frauen sowie für die Verletzung ihrer Rechte durch die Männer und das patriarchalische Regime im Iran. Im Patriarchat werden Frauen systematisch von Männern dominiert. Das religiöse Patriarchat schließt Frauen überdies systematisch von einer Funktion innerhalb der religiösen Autorität aus; dem liegt die Annahme zugrunde, dass Gott männlich ist. Das ist das Symbol des frauenfeindlichen, barbarischen Regimes der terroristischen Mullahs im Iran, die sich nicht um die universelle Erklärung der Menschenrechte kümmern. Und es klafft eine große Lücke zwischen dem Mullah-Regime und der säkularen Regierung der Schweiz. Konsequenterweise sind die Mullahs strikt gegen freie, demokratische und fortschrittliche Regierungen, die für die Menschenrechte, eine zivilisierte Gesellschaft und die Rechtsstaatlichkeit eintreten.

Liebe Micheline Calmy-Rey, die Mullahs kennen viele verschiedene Tricks, um einer Isolation zu entgehen, und sie sind sehr glücklich über die wirtschaftliche Vereinbarung mit Ihnen, die sie ohne negative Konsequenzen seitens Ihrer Regierung und anderer unterzeichnen konnten. Das Regime ist sehr glücklich, wenn es den Iranern den Wohlstand rauben kann, während der Bevölkerung – der eigentlichen Besitzerin dieser Ressourcen – die Früchte dieses Vertrags vorenthalten werden.

Liebe Micheline Calmy-Rey, Ihre Tat ist leider ziemlich erschütternd und bricht die Herzen vieler Iraner. Sie schließen einen Kontrakt mit einem fanatischen, frauenfeindlichen und terroristischen Regime, und dabei sabotieren Sie den schmerzhaften Kampf iranischer Frauen für ihre Mindestrechte. Sie haben dadurch, dass Sie als Zeichen des Appeasements das Kopftuch trugen, teures Lehrgeld an das despotische, faschistische, reaktionäre, mittelalterliche, korrupte und kriminelle Mullah-Regime gezahlt. Dieses Regime, das Dissidenten steinigt, deren Hände und Füße amputiert und seine Gegner öffentlich erhängt, verdient keine Legitimation. Die große Mehrheit der Iraner hat die jüngsten iranischen Parlamentswahlen boykottiert.

Als Anwältin für Frauenrechte habe ich tiefen Respekt vor Ihnen, und ich hätte nicht gedacht, dass Sie einen Dialog mit einem früheren Henker wie Ahmadinedjad führen würden. Diejenigen, die für Demokratie und Freiheit kämpfen, erwarten von den europäischen Politikern einen Boykott der so genannten Islamischen Republik Iran, um das Leiden der iranischen Bevölkerung zu mindern – einer Bevölkerung, die das derzeitige inhumane, verbrecherische Regime durch eine demokratische Regierung ersetzen will.

Ich hoffe auf Ihre Solidarität mit der iranischen Bevölkerung, insbesondere mit den Frauen, die seit nunmehr fast 30 Jahren von den im Iran regierenden Kriminellen als Geiseln genommen werden. Das iranische Regime sollte wegen Verbrechen gegen die Menschheit vor Gericht gebracht werden.

Hochachtungsvoll

Dr. Zahra Erfani
Zürich, Schweiz

Hattip: Urs Schmidlin

4.4.08

Im Osten nichts Neues

Am vergangenen Wochenende kam es bei einem unterklassigen Fußballspiel in Deutschland einmal mehr zu antisemitischen Ausschreitungen: Während einer Oberligapartie des Halleschen FC grölten Anhänger dieses Vereins diverse Male in beleidigender Absicht „Juden Jena“ in Richtung der Gästespieler. Der Schiedsrichter zog es jedoch vor, diese Vorfälle nicht im offiziellen Spielbericht zu erwähnen, die Verantwortlichen des HFC behaupten, nichts gehört zu haben, und im Forum eines Fanklubs wurden kritische Beiträge gelöscht. Insbesondere im Osten der Republik sind solche Geschehnisse an der Tagesordnung. Einschneidende Konsequenzen gibt es jedoch praktisch nicht.

Es war nicht das erste Mal, dass die HFC-Fans bei einem Spiel ihrer Mannschaft gegen den FC Carl Zeiss auffällig wurden: Bereits vor vier Jahren war es bei dieser Begegnung – damals in Jena – zu Krawallen und antisemitischen Hassgesängen gekommen. Nun wiederholte sich die Szenerie: „Schiedsrichter André Stolzenburg pfeift einen Eckball für die Gäste. Als der Jenaer Spieler sich der Hallenser Kurve nähert, ertönen die Rufe zum ersten Mal, erinnert sich ein Augenzeuge: ‚Juden Jena!’“, berichtete Christoph Ruf auf Spiegel Online. „Der Zeuge, der das Spiel in der HFC-Kurve verfolgte, erinnert sich, dass ‚der Linienrichter zu diesem Zeitpunkt genau vor der Kurve stand. Er kann das nicht überhört haben’“, heißt es in dem Beitrag weiter. „Doch im Spielberichtsbogen sind die antisemitischen Rufe, die danach noch mehrfach zu hören waren, nicht vermerkt. ‚Mehrmals während des Spiels wurde ‚Juden Jena’ in unsere Richtung gebrüllt’, sagt auch Lutz Hofmann vom Jenaer Fanprojekt, der sich in etwa 100 Meter Luftlinie Entfernung in der Gästekurve aufhielt.“

Auf Spiegel Online sind aber nicht nur Stellungnahmen von Besuchern des Spiels zu lesen, sondern dort findet sich außerdem eine Audio-Datei, die das Gebrüll dokumentiert. Die Parolen sind so eindeutig zu vernehmen, „dass der Stadionsprecher sie eigentlich unmöglich überhört haben kann“, konstatierte Ruf. „Dennoch wurden die Schreihälse aus der Hallenser Kurve zu keinem Zeitpunkt aufgefordert, die Schmähgesänge einzustellen.“ Auch im Internetforum des HFC-Fanklubs Web-Hallunken seien die Grölereien diskutiert worden. Inzwischen ist der entsprechende Thread jedoch nicht mehr aufzurufen. Zur Begründung heißt es dort, „die Medien“ hätten – unter Berufung auf das Forum – „teilweise falsche Angaben sowie nicht korrekt wiedergegebene Zitate von HFC-Vertretern“ verwendet, weshalb man sich gezwungen sehe, die Zusammenarbeit mit der Presse einzustellen und die Beiträge auf der Internetseite zu löschen. Offenbar empfindet man die Zeugenaussagen als Nestbeschmutzung, die man weit stärker gewichtet als den Antisemitismus der eigenen Klientel.

Die Verantwortlichen des Halleschen FC wollen die Tiraden nicht gehört haben; der Präsident des Klubs kündigte jedoch immerhin an, bei entsprechenden Beweisen „mit dem kompletten Programm rechtsstaatlicher Maßnahmen“ gegen diejenigen vorgehen zu wollen, die sie angestimmt haben. Beim Nordostdeutschen Fußball-Verband (NOFV) ist außerdem eine Anzeige eingegangen. NOFV-Geschäftsführer Holger Fuchs versicherte, den Vorfällen nachzugehen und gegebenenfalls drakonische Strafen zu verhängen. Bereits im Oktober 2006 war der HFC zu einer Geldstrafe und einem Spiel vor leeren Rängen verurteilt worden, nachdem Zuschauer einen Spieler des FC Sachsen Leipzig mit Affenlauten rassistisch gedemütigt hatten.

Ereignisse wie die in Halle sind im Amateurfußball keine Ausnahme. Immer wieder kommt es vor allem in Ostdeutschland zu rassistischen und antisemitischen Manifestationen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang beispielsweise an ein Jugendspiel in Wurzen, das am so genannten „Vatertag“ im Mai letzten Jahres in eine Nazi-Demonstration verwandelt wurde. Damals riefen Jugendliche Sprüche wie „Du Judenschwein“, „Fick deine Mutter, du Judensau“ und „Wir ziehen dir die Vorhaut runter, du Jude“ in Richtung der Spieler des Gastvereins aus Chemnitz und des Schiedsrichter-Gespanns. Die Wurzener Vereinsverantwortlichen leugneten seinerzeit die Vorfälle, bis sie schließlich nicht mehr abzustreiten waren. Auch und vor allem der Berliner Klub TuS Makkabi ist regelmäßig mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert. Im Oktober 2006 wurde deshalb sogar ein Spiel seiner zweiten Mannschaft abgebrochen. Und seit dem vergangenen Samstag wird gegen zwei Personen ermittelt, die bei einem Spiel von Makkabis Erster den so genannten Hitlergruß entboten respektive neonazistische Beleidigungen von sich gegeben haben sollen. Der Vorsitzende des Vereins, Tuvia Schlesinger, sagte, derartige Ereignisse wiederholten sich ständig: „Mittlerweile haben wir alle zwei, drei Wochen so eine Geschichte.“

Doch berichtet wird darüber nur gelegentlich, und noch seltener gibt es Konsequenzen, einschneidende schon gar nicht. Während der Deutsche Fußball-Bund (DFB) in den Profiligen medienwirksame Aktionen wie „Zeig dem Rassismus die rote Karte“ initiiert oder unterstützt und dort ausländerfeindliche und antisemitische Tiraden inzwischen rückläufig sind, gilt für Spiele in den unteren Klassen das Gegenteil. Insbesondere bei den Verantwortlichen von Ostklubs lautet das Motto: „Erst leugnen, und wenn das nicht mehr geht, auf Teufel komm raus bagatellisieren“, wie Raicko Eichkamp bereits im November 2006 in der Jungle World resümierte. Bei nicht wenigen Amateurvereinen besteht die Anhängerschar dabei zu erheblichen Teilen aus exakt jenen Zuschauern, die für die Hasstiraden verantwortlich sind. Und auf deren Obolus will man nicht verzichten. Dabei nimmt man in Kauf, dass andere Fans aus genau diesem Grund den Stadien fern bleiben.

Im Internetforum der Web-Hallunken wird es derweil überwiegend begrüßt, dass der Widerspruch gegen die antisemitischen Ausschreitungen beim Spiel gegen Jena unterbunden wurde. „ich find es richtig, die threads zu löschen. denn politische äußerungen sind nunmal nicht sinn und zweck dieses forums und daher gehören diese postings gelöscht“, befand beispielsweise der User „Ranu“. „arma“ urteilte: „100 % Richtig!“, „ammendorfer“ beschied einem, der anderer Ansicht war, schlicht: „geh in den Zoo zurück!“, und „Der Akener“ mahnte eine Prioritätensetzung an: „wir sollten uns jetzt auf sonntag konzentrieren und ein rot weißes meer aufbieten.“ Dass „Jude“ als Schimpfwort verwendet wurde, beschäftigt augenscheinlich keinen der Teilnehmer. Denn das ist längst Normalität.

Zum Foto: Anhänger von Energie Cottbus zeigen im Dezember 2005 ein Transparent, mit dem Dynamo Dresden in beleidigender Absicht als „Judenklub“ bezeichnet wird. Der Buchstabe „D“ stellt dabei das Dynamo-Vereinswappen dar.

Hattips: David Goldner, Mona Rieboldt, Olaf Kistenmacher

2.4.08

Watzals Groupies

Es muss ein regelrechter Traumjob sein, bei der Bundeszentrale für politische Bildung als Redakteur arbeiten zu dürfen: Man sitzt ein bisschen im Büro herum, schreibt gelegentlich ein Artikelchen und hat ansonsten jede Menge Freizeit. Zumindest bei Ludwig Watzal scheint das so zu sein. Denn der darf sein publizistisches und sonstiges Schaffen zum Thema Israel respektive Nahost seit drei Jahren ja nur noch nach Feierabend betreiben. Und angesichts der bemerkenswerten Fülle seiner diesbezüglichen Aktivitäten bleibt nur der Schluss, dass der Mann den Griffel jeden Tag ziemlich früh fallen lässt, um seiner eigentlichen Passion nachzugehen. Die wird in diesem Land zwar von den meisten geteilt, aber eben nicht von allen. Und weil einige wenige Watzals obsessive „Israelkritik“ das nennen, was sie ist – lupenreiner Antisemitismus nämlich –, seine guten Beziehungen zu Judenhassern aller Fraktionen kritisieren und die allemal nachvollziehbare Frage stellen, ob sich das wohl für einen Mitarbeiter einer öffentlichen Behörde geziemt, fühlt sich der Politikwissenschaftler verfolgt, ja, als Opfer einer veritablen Verschwörung. Zwar findet die Aufklärung über sein Tun und Treiben in aller Offenheit statt und hat so gar nichts Geheimes, Verruchtes oder Hinterhältiges. Aber was ein echter Paranoiker ist, der wittert nun mal allenthalben konspirative Absprachen, das Wirken einer – horribile dictu – (all)mächtigen Lobby also, die ihn mit niederträchtigsten Mitteln kalt lächelnd zu Fall zu bringen gedenkt.

Dabei steht Watzal jedoch nicht allein auf weiter Flur, denn er hat treue Groupies, und die steigen regelmäßig zu seiner Verteidigung in die Bütt – nicht nur auf vergleichsweise unbedeutenden Internetseiten übrigens, sondern auch in Tageszeitungen mit immerhin bundesweiter Verbreitung. Georg Baltissen beispielsweise ging in der taz kürzlich engagiert in die Vollen: „Ludwig Watzal, Redakteur bei der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) und rühriger Kritiker israelischer Besatzungspolitik, sieht sich erneut mit konzertierten Attacken konfrontiert, die ihn des Antisemitismus anklagen und ihn aus seinem Job entfernen wollen“, drückte er in seinem mit „Jagt den Watzal“ überschriebenen Beitrag schwer auf die Tränendrüse. Ein Schuft, wer da kein Mitleid mit dem armen, mutigen Mann empfindet, den herzlose Finsterlinge auf Hartz IV setzen wollen! Wer sind bloß diese gewissenlosen Gestalten, wo kommen sie her, und was tun sie? Na klar, dieses: „Einschlägige proisraelische Websites und ein Artikel in der Jerusalem Post werfen Watzal vor, auf der proamerikanischen Website Lebanonwire eine Buchbesprechung veröffentlicht zu haben, in der er seine Funktion als Redakteur der BpB erwähnt.“

„Einschlägig“ meint so viel wie „notorisch“, und wenn sich dann noch das Adjektiv „proisraelisch“ hinzugesellt, wissen die taz-Leser bereits: Die omnipräsente jüdische Lobby steckt hinter der Angelegenheit. Ihr Verbrechen besteht darin, die Angaben zur Person zitiert und verbreitet zu haben, die sich unter einem stramm antiisraelischen Text von Watzal auf der Website lebanonwire.com finden. Dort steht, ins Deutsche übersetzt: „Ludwig Watzal ist ein Mitarbeiter der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung, der auch Beiträge für die militante linke Internetseite antiimperialista.org verfasst. Zudem ist er einer der vier Redakteure von Aus Politik und Zeitgeschichte.“ An dieser biografischen Notiz stimmt zwar jedes einzelne Wort, aber Watzal ist sie trotzdem peinlich. Schließlich hatte ihn sein Arbeitgeber ja eindringlich darum gebeten, verleugnet zu werden. Zumindest nach dem Ende der täglichen Schicht.

Also setzte Watzal alle Hebel in Bewegung, um die drohenden Unannehmlichkeiten abzuwenden: Er verlangte von den Betreibern von Lebanonwire händeringend die Entfernung des Artikels, der ohne seine Genehmigung von der Website Counterpunch übernommen und veröffentlicht worden sei, und zeterte vernehmlich darüber, Opfer einer „Diffamierungskampagne“ von „antideutschen und neokonservativen Extremisten“ zu sein, die sich „auf Manipulationen und falsche Behauptungen sowie Tricks“ stütze. Schließlich sei unter dem ursprünglich bei Counterpunch erschienenen Artikel lediglich ganz allgemein vermerkt gewesen: „Dr. Ludwig Watzal arbeitet als Redakteur und Journalist in Bonn, Deutschland. Er hat mehrere Bücher zu Israel und Palästina geschrieben.“ Dass Lebanonwire nun nicht nur einfach den Text nachgedruckt, sondern außerdem noch einige weitere – gänzlich unstrittige – Funktionen und Tätigkeiten Watzals hinzugefügt hatte, konnte also nur das Werk Übelwollender gewesen sein. Das heißt: Wer das wahrlich umfängliche publizistische Schaffen des Politologen gebührend würdigt und sich dabei unleugbarer biografischer Angaben bedient, der diffamiert, manipuliert und lügt. Eine bizarre Logik.

Doch der taz-Mann Georg Baltissen scherte sich nicht um solche Absurditäten und fuhr stattdessen fort: „Auch wenn die Jerusalem Post in ihrem Artikel Anfang März etwas vorschnell einen ‚Aufschrei in Deutschland’ wegen Watzals Veröffentlichung ausgemacht haben will, hat sich doch ein Parlamentarier gefunden, der sich dem Anliegen der proisraelischen Lobby nicht verweigert hat.“ Seinen Widerspruch, die wenigen Kritiker Watzals erst zu einer Allmacht aufgebläht zu haben, um dann – leider vollkommen zu Recht – festzustellen, es gebe erstens gar keinen Aufschrei und zweitens nur ein einziges die „proisraelische Lobby“ vertretendes Parlamentsmitglied, kann Baltissen vermutlich selbst nicht erklären. Muss er aber auch gar nicht, denn alles, was in solchen Fällen zählt, ist das Raunen über die angebliche jüdische Macht und ihre sinistren Vertreter.

Noch doller als Baltissen trieb es Knut Mellenthin in der jungen Welt. Mellenthin kümmert sich – in seiner Freizeit, wie Watzal – zwar rührend um die toten Juden und hat dafür sogar Preise eingeheimst; mit den lebenden hat er allerdings so seine Probleme, es sei denn, sie weisen sich explizit als „Israelkritiker“ aus. Und so sieht auch er eine „konzertierte Aktion“ gegen Ludwig Watzal am Werk, eine „muntere Treibjagd rechtszionistischer Kreise“, deren Anführer der Publizist Henryk M. Broder sei. „Watzals Feinde“ jedenfalls, enthüllte der junge Welt-Schreiber, hätten „kurz vor der Israel-Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel“ – also quasi zu einem genau abgepassten Zeitpunkt – einen erneuten Anlauf unternommen, den Politikwissenschaftler um seinen Job bei der Bundeszentrale zu bringen. En detail kaute Mellenthin nach, was Watzal ihm zuvor ausgespuckt hatte, bis hin zu dem Befund, „die unautorisierte Übernahme von Watzals Artikel mit den verfänglich formulierten Angaben zur Person“ sei eine „gezielte Provokation“. Es stelle sich daher die Frage, „ob Broder darauf wirklich nur ganz zufällig beim Stöbern im Internet gestoßen ist“. Schließlich „hat seine Entdeckung ein internationales Echo ausgelöst“ – und Mellenthin erst so richtig in Wallung gebracht:
„Am 2. März berichtete die in Israel erscheinende Jerusalem Post unter der Überschrift ‚Aufschrei über ‚Antisemiten’ in deutscher Regierungsstelle’, am 5. März die in den USA ansässige Nachrichtenagentur Jewish Telegraphic Agency (JTA). In Deutschland nahm die auf Denunziationen im allgemeinen und auf die Watzal-Jagd im besonderen spezialisierte Website ‚honestly concerned’ das Thema auf. Alle stellten die Veröffentlichung auf lebanonwire.com in den Vordergrund. Geht man den dort plazierten, für den Betroffenen möglicherweise kompromittierenden Angaben zur Person nach, so entdeckt man sie in einem Text wieder, den der US-amerikanische Journalist John Rosenthal am 23. Februar 2006 gegen Watzal veröffentlicht hatte. Die Formulierung, Watzal sei ‚one of the four co-editors of Aus Politik und Zeitgeschichte’, steht wörtlich auch dort. Broder übrigens hatte den Artikel Rosenthals bereits kurz nach dessen Erscheinen auf seiner Website verlinkt.“
Ein in Deutschland nicht allen bekannter Amerikaner mit dem verdächtigen Nachnamen Rosenthal, ein in Deutschland allen Bekannter mit Namen Broder, dazu eine israelische Tageszeitung, eine jüdisch-amerikanische Nachrichtenagentur und Honestly Concerned – fertig ist die jüdische Weltverschwörung gegen Ludwig Watzal. Das muss Mellenthin aber nicht wörtlich schreiben, weil es sein Publikum auch so versteht. So sehen sie aus, die Watzal-Groupies, und so geht ihr Schmierenstück von der verfolgten Unschuld, das doch nur der x-te Aufguss der „Protokolle der Weisen von Zion“ ist. Angesichts dessen muss sich Watzal übrigens nicht sorgen, Hungers zu sterben, sollte sich die Bundeszentrale für politische Bildung unerwartet doch von ihm trennen: Bei der taz oder der jungen Welt hat man bestimmt ein Plätzchen für ihn. Dort könnte er außerdem den ganzen Tag lang tun, was er zurzeit nur in seiner, scheint’s, üppigen Freizeit darf.

1.4.08

Bernstein und der Kontext-Terror

Ein echter Mann des Friedens und der Verständigung, Historiker obendrein, schickt Lizas Welt einen Kommentar zu dem auf diesem Weblog veröffentlichten Beitrag Merkaz Harav, der sich mit der Ermordung von acht Studenten der gleichnamigen jüdischen Religionsschule in Jerusalem am 6. März dieses Jahres befasste:
Wahrscheinlich bin ich einer der wenigen, die sehr früh mit einem führenden Vertreter der „Yeshivat Merkaz haRav“ ein Gespräch geführt haben. Es war wenige Tage nach Gründung des „Gush Emunim“ („Block der Glaubenstreuen“) im Februar 1974. Der Gesprächspartner war R’ Yohanan Fried. Die Gründung der Yeshiva geht auf R’ Yehuda Zvi Kook zurück, der schon vor 1967 für die jüdische Besiedlung der „Wiege des jüdischen Volkes in Judäa und Samaria“ eintrat und der Gründung des Staates Israel 1948 keine theologische Bedeutung beimaß, weil er im „Philisterland“ entstand. Fried erklärte in dem damaligen Gespräch, dass der arabischen Bevölkerung des Landes keine souveränen Rechte zustehen.

Die Yeshiva und ihr Gründer, der 1980 starb, wurden zum Zentrum des theologischen Messianismus der Siedlerbewegung. Wer die Gelegenheit hat, sich wenigstens im Umfeld der Yeshiva umzuschauen, was ganz leicht ist, weil die Anlage (mittlerweile) an der Ausfahrtstraße nach Tel Aviv liegt, gewinnt den Eindruck, dass für das dortige Lehrpersonal und die Studenten (Frauen gibt es dort selbstverständlich nicht) jede politische Vereinbarung mit den Palästinensern – die auf einen wie auch immer gearteten Kompromiss hinauslaufen würde – einer Blasphemie gleichkommt.

Wenn man über den Terrorakt spricht, sollte man sich an diesen Kontext erinnern.

Dr. Reiner Bernstein
Nun war der Gründer der Yeshiva Merkaz Harav nicht Rabbi Zvi Yehuda Kook, sondern dessen Vater Abraham Isaac Kook, der erste aschkenasische Oberrabbiner im britischen Mandatsgebiet Palästina und ein überaus liberaler noch dazu. Sein Sohn Zvi Yehuda, der die Leitung der Schule nach dem Tod seines Vaters übernahm, starb auch nicht 1980, sondern erst 1982. Aber man will ja nicht kleinlich sein, nicht einmal einem studierten Geschichtswissenschaftler gegenüber. Interessanter scheint ohnehin, was Bernstein eigentlich mit dem „Kontext“ meint, an den man sich im Zusammenhang mit dem Mordanschlag in der Yeshiva „erinnern“ möge. Vielleicht ist er ja bereit, seine zarte Andeutung zu präzisieren? Einen Versuch ist es jedenfalls wert:
Sehr geehrter Herr Bernstein,

im „Umfeld der Yeshiva“ hat sich offensichtlich auch der Attentäter „umgesehen“, bevor er am 6. März acht Schüler ermordete. Verstehe ich Sie richtig, dass der „Kontext“, von dem Sie sprechen, das Blutbad in Ihren Augen verständlich macht oder gar legitimiert?

Lizas Welt
Aber, ach – die Klarstellung, sie bleibt aus. Denn:
Sie erwarten nicht, dass ich einem Anonymus antworte.
Dr. Bernstein
Nein? Doch! Also noch ein Versuch:
Seltsam. Sie haben ja zuvor auch einem „Anonymus“ geschrieben. Und jetzt soll das plötzlich ein Hindernis sein, wenn Sie eine konkrete Nachfrage gestellt bekommen? Das leuchtet mir nicht ein. Sie verstehen sicher, dass ich mir dann auf der Grundlage Ihrer ersten E-Mail meine Gedanken machen muss.
Vergebens – Bernstein schweigt sich aus, zeigt sich immerhin aber verständig:
Hoffentlich werden Sie bei der Suche fündig. Alles Gute!
Man muss gleichwohl nicht lange danach forschen, an welchen „Kontext“ der Münchner Doktor anlässlich der Ermordung von acht jungen Studenten einer jüdischen Religionslehranstalt denkt. Er lautet, kurz gefasst: Merkaz Harav ist „die zionistische Religionsschule der rassistischen Siedlerbewegung“, „die Hochburg des zionistischen Fundamentalismus“, „das Herz des religiösen Zionismus“ und das „Symbol für Vertreibung und Landraub, für religiös begründeten Rassismus“. So unverblümt hat Bernstein das, anders als die Linke Zeitung, zwar nicht formuliert. Aber der Unterschied ist kein grundsätzlicher, sondern bloß der zwischen der offenherzigen Pöbelei eines antizionistischen Krawallblatts und der etwas vornehmeren Ausdrucksweise eines Akademikers.

Einig sind sich beide allemal darin, dass es das Gemetzel des zwanzigjährigen Arabers mit israelischem Pass und Kalaschnikow ohne diesen „Kontext“ nicht gegeben hätte und dass es dementsprechend die irgendwo doch verständliche Reaktion eines Erniedrigten und Beleidigten war. Es ist dies die gleiche Logik, mit der die notorischen Friedensfreunde palästinensische Selbstmordattentate und Raketenangriffe auf den jüdischen Staat zu „Verzweiflungstaten“ herunterspielen, die Israel sich letztlich selbst zuzuschreiben habe. Nur eines dürfen solche tödlichen Attacken wie auch der Amoklauf in der Yeshiva nie sein: originär antisemitischer Terror, dessen einziges Ziel es ist, so viele Juden wie möglich umzubringen, weil sie Juden sind – egal, ob diese Juden in Sderot wohnen, in der Disko tanzen, an den Grenzübergängen das Eindringen weiterer menschlicher Bomben verhindern oder in einer Bibliothek den Talmud studieren.

Wenn es aber schon mal um den Kontext geht, sollten „die übergroße Sympathie der palästinensischen Bevölkerung mit den Intentionen des Attentäters“ und die „spontanen Freudenkundgebungen“ nicht in Vergessenheit geraten, von denen die Linke Zeitung so freimütig wie zufrieden berichtete. Dieser ausgelassene Jubel über den achtfachen Mord jedoch kümmert Bernstein nicht weiter. Stattdessen klammert er sich unbeirrt an die von ihm hierzulande vertretene Genfer Initiative, für deren Stagnation er in erster Linie Israel verantwortlich macht – wiewohl es die Palästinenser sind, die immer wieder eindrucksvoll demonstrieren, dass es ihnen nicht nur um die Hälfte des Kuchens geht (den sie längst haben könnten), sondern um die ganze Bäckerei, nicht um Koexistenz mit Israel also, sondern um ein judenfreies Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer.

Doch Bernstein befielen noch nicht einmal nach dem Wahlsieg der Hamas zu Beginn des Jahres 2006 Zweifel an der Friedfertigkeit der Bewohner des Gazastreifens und der Westbank. Die Gottespartei pendle „momentan zwischen Extremismus und Pragmatismus“, sagte er seinerzeit der Jungle World. „Es gibt heftige Flügelkämpfe, und ich bin davon überzeugt, dass sich der pragmatische Flügel schließlich durchsetzen wird.“ Ein Jahr später glaubte er dann allen Ernstes, dass sich die richtigen Vögel durchgesetzt hätten:Die Hamas hat in den vergangenen Wochen eine lange Strecke zurückgelegt, indem sie Realitäten anerkannt hat. Es ist mehrfach von der Hamas gesagt worden, dass die Existenz des Staates Israel unbestritten ist.“ Dummerweise wusste man bei Hamasens zu Hause jedoch gar nichts davon und setzte weiter auf die Auslöschung Israels, weshalb Bernstein rasch forderte, „den islamischen Widerstand in die politische Verantwortung zu nehmen“. Dabei müssten „seine Repräsentanten verstehen lernen, dass jeder ‚Qassam’-Beschuss und jeder Selbstmordanschlag“ – ein antisemitisches Verbrechen ist? Nein, sondern nur „die Vision von einem Staat Palästina in immer weitere Ferne rückt“. Aber noch immer sah Bernstein einen Silberstreif: „Erste positive Schritte des Umdenkens deuten sich an.“

Die Hamas zog es jedoch vor, die Beschwörungen und Ratschläge aus München weiterhin zu ignorieren und derweil den Gazastreifen komplett in Beschlag zu nehmen. Kein Problem für Bernstein: „Die deutsche und die europäische Außenpolitik sollten auf Präsident Machmud Abbas einwirken, seine Verweigerungshaltung gegenüber Hamas aufzugeben. Denn es kommt darauf an, die gemäßigten Kräfte innerhalb der Islamischen Widerstandsbewegung“ – und doch nicht mehr den gesamten großartigen „islamischen Widerstand“ – „in die politische Verantwortung einzubinden“. Wie ein gemäßigter Judenmord aussehen soll, weiß Bernstein vermutlich auch nicht – aber vielleicht war ja das Attentat in der Yeshiva ein solcher, wenn man sich nur an den „Kontext erinnert“?

Und so träumt ein deutscher Historiker gemeinsam mit seiner Frau weiterhin von einem „gerechten Frieden im Nahen Osten“, dessen Wegweiser und Modell die Genfer Initiative sei. Die ist den Palästinensern jedoch erwiesenermaßen noch viel zu wenig, während ihre Umsetzung für Israel bereits mörderisch wäre. Aber vielleicht ist es ja das, was Reiner Bernstein unter Gerechtigkeit versteht. Wie auch immer – was ihm einstweilen bleibt und keiner mehr nimmt, ist jedenfalls dies: „
Wahrscheinlich bin ich einer der wenigen, die sehr früh mit einem führenden Vertreter der ‚Yeshivat Merkaz haRav’ ein Gespräch geführt haben.“ Und Carlsberg ist genauso wahrscheinlich das beste Bier der Welt. In einem bestimmten Kontext zumindest.

Oberes Foto: Ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation ZAKA sammelt in der Bibliothek der Yeshiva Leichenteile ein. Unteres Foto: Familienangehörige trauern um die Opfer des Attentats auf die Religionsschule. Weitere Bilder, bei denen man sich laut Reiner Bernstein „an den Kontext erinnern“ soll, finden sich beim Fotodienst JAMD.