27.5.08

Lobbyist gegen Israel

Es war womöglich nur ein Zufall, aber die Koinzidenz passte perfekt: Während Spiegel Online gestern vermeldete, dass der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter in einer Rede tags zuvor die Existenz von israelischen Atomwaffen verkündet und ihre Zahl auf 150 geschätzt hat, publizierte die Süddeutsche Zeitung in ihrer Montagsausgabe einen Gastbeitrag des 83-Jährigen mit dem Titel „Die Tragödie der Palästinenser“, in dem er seine Gespräche mit der Hamas verteidigte und – wie auch in seiner Ansprache – Israel „eines schrecklichen Verbrechens gegen die Menschenrechte“ sowie „grausamer Misshandlung der Palästinenser im Gazastreifen“ bezichtigte. Solche Nachrichten kommen an in Deutschland; mit ihnen munitionieren sich die „Israelkritiker“ aller Couleur, und auch die Antiamerikaner schätzen den Erdnussfabrikanten als Stichwortgeber und Kronzeuge sehr. Hierzulande weniger bekannt und vermutlich auch kaum skandaltauglich sind die engen finanziellen und politischen Verbindungen des demokratischen Ex-Präsidenten zu arabischen Ölstaaten und dortigen milliardenschweren Kreisen, in denen der offene Judenhass ein festes Zuhause hat. Carter selbst und das von ihm gegründete Carter Center hätten vor allem aus dem saudi-arabischen Königshaus sowie von Scheich Zayed bin Sultan Al Nahayan – dem langjährigen Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate – und dessen Zayed Center hohe Zuwendungen erhalten, schrieb Alan Dershowitz bereits vor einem Jahr. Dershowitz ist Juraprofessor und war früher Carters Wahlkampfhelfer.

2001 gewann Carter sogar den Zayed Prize und damit eine halbe Million Dollar – offiziell für sein Umweltengagement. Aber die Geldströme seines „persönlichen Freundes“ sollten vor allem Carters Attacken gegen Israel und seine Parteinahme für die Palästinenser stärken, die Hamas ausdrücklich eingeschlossen: Scheich Zayed, der spendable Sponsor, ist ein glühender Antisemit; sein Zayed Center hält Juden für „die Feinde aller Nationen“, schreibt die Ermordung John F. Kennedys Israel und dem Mossad zu und leugnet den Holocaust. Das Preisgeld hat Carter – ein „trotzdem“ verbietet sich hier – gerne genommen, und es ist vermutlich unnötig, zu erwähnen, dass sein Carter Center zur Förderung des Friedens, der Gesundheit und der Menschenrechte weltweit sich nicht weiter darum kümmert, was man in den Emiraten und Saudi-Arabien unter Menschenrechten versteht. Schließlich beißt man nicht in die Hand, die einen füttert. „Einer der wesentlichen Prämissen für Carters Kritik am jüdischen Einfluss auf die amerikanische Außenpolitik ist das Geld“, resümierte auch Alan Dershowitz. „Carter hat gesagt, dass Politiker, die von jüdischen Quellen Geld erhielten, beim Thema Nahost nicht mehr frei in ihren Entscheidungen seien. Carter hat argumentiert, dass die Reporter nicht ehrlich über den Nahen Osten berichten könnten, weil sie mit jüdischem Geld bezahlt würden. Deshalb wäre es nach seinen eigenen Standards fast schon ökonomischer Selbstmord, wenn Carter ‚für eine ausgewogene Position zwischen Israel und Palästina’ einträte.“

Und das tut er dann ja auch nicht, obwohl man das hierzulande ganz anders sieht. Dass Carters unablässige Tiraden gegen den jüdischen Staat eine Form von bezahlter Ideologieproduktion sind und dass der ehemalige US-Präsident schlicht ein prominenter und aggressiver Vertreter der arabischen (Öl-) Lobby ist, wendet jedenfalls niemand ein – am wenigsten diejenigen, die sich sonst bei jeder Gelegenheit über die Schädlichkeit von Lobbys auslassen, insbesondere natürlich über die der Israel-Lobby. Deren Tun und Lassen unterstellen die „Israelkritiker“ regelmäßig einem Allmachtsverdacht, wo sie es nicht gleich als festen Bestandteil einer jüdischen Weltverschwörung betrachten. Carter hingegen wird nicht als proarabischer (und antiisraelischer) Lobbyist oder gar als Judenhasser wahrgenommen, sondern vielmehr als Vertreter des „anderen“, „besseren“ Amerika gehandelt, als engagierter Freund von Frieden und Humanität sowie als selbstloser, mutiger Mann, der stets sein Gewissen sprechen lässt, komme, wer da wolle. Deshalb darf er sich auch in einer der führenden deutschen Tageszeitungen ausbreiten und Werbung in eigener Sache betreiben, mit einem Beitrag nämlich, den die Süddeutsche wortgetreu vom internationalen Zeitungszusammenschluss Project Syndicate übernahm.

Es lohnt sich kaum, Carters Philippika gegen Israel auseinanderzunehmen; zu offensichtlich ist seine ideologische Motivation. Für ihn ist der jüdische Staat ein veritables, alles palästinensische Leiden verantwortendes Monster, während ihm die antisemitische Hamas geradezu als Musterbeispiel einer demokratischen Regierungspartei gilt, deren vielfach bekundete Friedensbereitschaft von Israel jedoch böswillig ignoriert werde. Zu dieser Überzeugung sei er nicht zuletzt in persönlichen Gesprächen mit hohen Hamas-Funktionären gelangt, unter anderem mit dem Politbüro-Chef Khaled Mashaal in Damaskus. Carter war auch in Sderot, „einer Gemeinschaft von etwa 20.000 Menschen in Südisrael, die häufig von aus dem nahe gelegenen Gaza abgeschossenen rudimentären Raketen getroffen wird“. Und was meint der Friedensfreund dazu, dass eine ganze Reihe von Menschen von diesen „rudimentären Raketen“ deutlich mehr als rudimentär getroffen wurde? „Ich habe diese Angriffe als verabscheuungswürdig und als terroristischen Akt verurteilt, da die meisten der 13 Opfer während der vergangenen sieben Jahre nicht an Kämpfen beteiligt waren.“ Der Rest hat es dann wohl verdient. Da müssen die Hamas und der Islamische Djihad also noch ein bisschen an ihrer rudimentären Praxis feilen.

In Jimmy Carter haben die Feinde Israels einen wichtigen strategischen Partner und Lobbyisten, und dazu passen auch seine vorgestrige öffentliche Schätzung der Zahl der israelischen Atomwaffen sowie seine gleichzeitig geäußerte Forderung nach direkten Verhandlungen der USA mit dem Iran über das Atomprogramm Teherans. Der israelische Uno-Botschafter Dan Gillerman bezeichnete Carter unlängst als „Fanatiker“ und traf damit den Nagel auf den Kopf. Eine überregionale deutsche Zeitung aber gewährt ihm Platz für seine „Außenansicht“ genannte Propaganda, mit der Israel dämonisiert und delegitimiert wird, und sie schreckt dadurch nicht einmal vor einer dreisten Verharmlosung, ja, teilweisen Rechtfertigung der Raketenangriffe auf Israel zurück. Bezeichnend.

Foto: Jimmy Carter signiert sein antiisraelisches Buch Peace not Apartheid in Cambridge (Massachusetts), Januar 2007.

25.5.08

Reise-Führer mit Know-How

Wenn es ins Ausland geht, gehören Reiseführer zum Urlaubsgepäck wie die Sonnenmilch mit hohem Lichtschutzfaktor und die Tabletten gegen Durchfall. Man mag nicht auf die kleinen Taschenbücher verzichten, die einem die Sehenswürdigkeiten, Kneipen und Einkaufszentren des Ziellandes oder -ortes kompakt zusammenfassen und darüber hinaus oft auch mit geschichtlichen Erörterungen, allerlei Hinweisen und mehr oder weniger nützlichen Verhaltensratschlägen aufwarten. Die Auswahl an solchen Guides ist nahezu unüberschaubar, aber es haben sich natürlich ein paar Publikationshäuser herauskristallisiert, denen ein besonderer Zuspruch deutscher Ferienfahrer zuteil wird. Vor allem sich fortschrittlich Dünkende greifen dabei gerne auf die Ratgeber von Reise Know-How aus Bielefeld zurück (einer Metropole, die „als Wirtschaftsstandort längst nicht nur den Liebhabern von Pudding ein Begriff ist“, wie der Verlag versichert). In denen nämlich finden sie neben den gängigen Touristenzielen auch die alternativeren Locations und darüber hinaus in der Regel eine ihren Vorstellungen gemäße Darstellung der Geschichte und Gegenwart des jeweiligen Landes.

Dementsprechend hat man kaum zu erwarten, dass etwa in dem von der freiberuflichen Autorin und Reiseveranstalterin Muriel Brunswig-Ibrahim verfassten Bändchen KulturSchock Vorderer Orient (Syrien, Libanon, Jordanien und Palästina) besonders kritische Worte über die betreffenden Länder oder gar Freundlichkeiten über Israel zu lesen sind. Auf der Homepage des Verlages heißt es zwar, „politische Fragen“ stünden „nicht im Vordergrund“ – obwohl „natürlich auch Intifada, Völkervertreibung und Selbstmordattentate Themen des Buches“ seien –, denn es gehe vor allem um das „normale Leben“ der arabischen Nahostbewohner („Sie heiraten, feiern, sind aktiv und auf Jobsuche. Sie genießen ihre Freizeit, sind engagiert – im Umweltschutz, in der“, jawohl, „Friedensbewegung, im Kunstschaffen.“). Aber ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lehrt schnell, dass das Private halt politisch ist und umgekehrt: „Ehre – eine Verpflichtung bis zum Mord“, „Vom Zionistenkongress zur Intifada – Entwicklungen in Palästina“ oder „Amin auf der Flucht – die Geschichte eines politischen Häftlings“ heißen die Kapitel beispielsweise, bevor es wieder um den „Frauentag im Hammam“ im Kontext der „orientalischen Badekultur“ oder ums „Glück zu heiraten“ geht.

Und im Innenteil des Reiseführers wird Klartext geredet, wie Heimo Gruber bestätigen kann. Gruber ist Bibliothekar bei den Büchereien Wien und bekam den KulturSchock Vorderer Orient sozusagen beruflich in die Hände. Er las ihn mit einigem Entsetzen, das auf Seite 210 schließlich seinen Höhepunkt erreichte – dort nämlich, wo die Autorin sich über die oft demonstrative arabische Zustimmung zum Tausendjährigen Reich und seinem Baumeister auslässt. Das veranlasste Gruber, nach der Lektüre eine E-Mail an Reise Know-How zu schreiben:
Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bin Bibliothekar bei den Büchereien Wien und habe soeben das in Ihrem Verlag erschienene Buch von Muriel Brunswig-Ibrahim, „KulturSchock Vorderer Orient – Syrien, Libanon, Jordanien und Palästina“ gelesen. Ihre Ankündigung im Impressum – „Wir freuen uns über Kritik, Kommentare und Verbesserungsvorschläge“ – möchte ich benutzen, um Sie auf eine Textstelle aufmerksam zu machen, deren Inhalt mich sehr befremdet hat. Auf den Seiten 210 und 211 heißt es:

„Deutsche Orientreisende sind oft regelrecht schockiert, wenn sie beispielsweise in Syrien mit einem kräftigen ‚Haaail Hitler’ konfontiert werden. ‚Hitler quais’ (dt. Hitler ist gut), meinen viele Araber: ‚Hitler hat es geschafft, die Israelis im Krieg zu schlagen.’ Wenn man hier überhaupt etwas über den Völkermord an den europäischen Juden weiß, dann hält man ihn für jüdische Propaganda. Die europäische Geschichte der 1930er und 1940er Jahre ist hier weitestgehend unbekannt. Es herrschen ganz diffuse Vorstellungen davon, wer Hitler war und was er getan hat. So liegt es an dem deutschen Besucher, seine Gesprächspartner ‚aufzuklären’. Die meisten Araber reagieren peinlich berührt, wenn sie die historischen Tatsachen erfahren und schweigen betreten – vorausgesetzt, sie glauben, was sie hören. Warum aber sollten sie das? Ihre gesamte Umwelt sagt doch etwas anderes. Syrische Zeitungen, ägyptische Scheichs, die Herrschaftseliten. [...] Und die Idee ist gut: Hitler war gegen die Juden. Das kann man im Nahen Osten hervorragend nachvollziehen. Seine anderen historischen Verbrechen vergisst man in Anbetracht dessen schnell.“

Vor allem die letzten Sätze zeugen von einer Empathie („hervorragend nachvollziehen“), für eine Stimmungslage, die dazu angetan ist, bei einem Teil der LeserInnen solche in der arabischen Welt vorhandenen Haltungen – insbesondere, wenn sie in Zusammenhang zu Israel (das die Autorin in diesem Buch durchgängig negativ bewertet) gesetzt werden – „verständlich“ zu machen. Wenn Sie in Ihrem Impressum weiters schreiben, dass alle Informationen „vom Lektorat des Verlages gewissenhaft bearbeitet und überprüft“ worden sind, so erlaube ich mir, das zu bezweifeln.

Mit freundlichen Grüßen
Heimo Gruber
Eine Woche später kam die Antwort. Die zuständige Verlagsmitarbeiterin hatte Grubers Schreiben der Verfasserin Muriel Brunswig-Ibrahim zukommen lassen:
Sehr geehrter Herr Gruber,

ich habe Ihre Kritik an die Autorin des o.g. KulturSchock-Bandes weitergeleitet. Lesen Sie bitte Ihre Stellungnahme, und ich hoffe, dass Sie damit Ihre Meinung über die von Ihnen angeführte Textstelle wandeln können.
Und so sieht sie aus, die Stellungnahme, mit der Heimo Grubers Einwand begegnet wurde:
Ich habe mich bei der Darstellung Israels und seiner Geschichte gewissenhaft und immer auf Uno-Fakten gestützt (zum großen Teil auch mit Quellenangabe im Buch). Vor allem die Leser, die mir Einseitigkeit vorwerfen, lesen selbst sehr einseitig bzw. gehen bereits mit festen Ideen, was sie finden wollen, an mein Buch heran und empfinden dann historische Tatsachen als „negativ“ oder „einseitig“ dargestellt. Das Lektorat – das können Sie gerne glauben – hat mehr als gewissenhaft gearbeitet; bisweilen war ich richtiggehend genervt von deren Penibilität, zum Schluss aber froh und dankbar darüber.

Wenn ich schreibe: „Syrische Zeitungen sagen das [...], und die Idee ist gut: Hitler war gegen die Juden. Das kann man im Nahen Osten hervorragend nachvollziehen. Seine anderen historischen Verbrechen vergisst man in Anbetracht dessen“, bedeutet ja wohl kaum, dass ich diese Idee gut heiße, wenn man den Zusammenhang liest und mir nicht gleich mal wieder Neo-Nazismus vorwerfen möchte. Ich beschreibe mit diesem Satz ganz einfach das, was in den Köpfen derer vorgeht, die eben genau diesen Satz sagen: Hitler quais – Hitler ist gut. Mal davon abgesehen, wer sich die Geschichte und das Verhalten Israels mal wirklich objektiv und nicht gefärbt (z.B. anhand der Uno-Publikationen) anschaut, kann den Arabern nicht verübeln, dass sie Sympathie empfinden für jemanden, der gegen Israel war. Die meisten (und auch das habe ich geschrieben, wie Sie dem zitierten Abschnitt entnehmen können) sind sich nicht darüber im Klaren, dass Juden nicht gleich Israel ist und dass Hitler versucht hat, ein Volk auszulöschen.

Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass man sich als Deutsche immer schuldig fühlen muss, wenn man wagt, die Verbrechen Israels zu nennen oder gar zu kritisieren. Ich habe nichts herbei geredet, nichts erfunden. Das ist leider die bittere Wahrheit, und diese kann man gerne in den von mir genannten Quellen nachlesen.

Ich bin übrigens auch keine Anti-Semitin. Ich bin mit einem Semiten verheiratet und habe ein halbsemitisches Kind. Das nur nebenbei.
Das Statement ist ein bemerkenswerter Beleg dafür, wie „Israelkritiker“ und andere Nahostexperten mit jedem Wort, das sie von sich geben, bestätigen, was sie zu widerlegen glauben. Rein deskriptiv will Brunswig-Ibrahim vorgegangen sein („Ich beschreibe mit diesem Satz ganz einfach das, was in den Köpfen derer vorgeht, die eben genau diesen Satz sagen: Hitler quais – Hitler ist gut“), aber dann bricht es doch aus ihr heraus. Auf „objektive“ und „nicht gefärbte“ Uno-Papiere gestützt (also auf eine allzeit unfehlbare Instanz), versteht sie im Grunde ihres Herzens, warum die Araber Hitler gut finden. Gleichzeitig meinten die es aber natürlich gar nicht so, weil sie sich „nicht im Klaren“ seien, „dass Juden nicht gleich Israel ist und dass Hitler versucht hat, ein Volk auszulöschen“. Darüber und über die „anderen“ – das heißt: weniger „nachvollziehbaren“ – „historischen Verbrechen“ werden sie dann von den Deutschen aufgeklärt, sozusagen aus erster Hand also. Auf die Idee, dass sie ihre Hätschelkinder mit diesen Sätzen mal eben entmündigt und für dumm erklärt, kommt die Autorin nicht; ansonsten hätte sie zumindest in Betracht ziehen müssen, dass die Identifizierung von Juden mit Israel sowie die Begeisterung für den deutschen Führer und sein Vernichtungsprojekt originäre geistige Eigenleistungen sind und nicht Ausdruck von Unwissenheit.

Doch damit nicht genug, denn Brunswig-Ibrahim wird auch noch grundsätzlich: „Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass man sich als Deutsche immer schuldig fühlen muss, wenn man wagt, die Verbrechen Israels zu nennen oder gar zu kritisieren.“ Man braucht kein Psychologe zu sein, um aus diesen Zeilen herauszulesen, dass es der Urheberin des Reiseführers ein vornehmes Bedürfnis ist, ihrem unstillbaren Verlangen nach „Israelkritik“ nachzugeben – und dass sie sich dabei in den von ihr porträtierten Ländern besonders gut aufgehoben fühlt, weil man dort sozusagen ein geschichtsbewusstes Verständnis für ihr Anliegen zeigt. Mit Antisemitismus hat das alles natürlich rein gar nichts zu tun, mit Rassenkunde dafür jedoch umso mehr: „Ich bin mit einem Semiten verheiratet und habe ein halbsemitisches Kind“, bekennt die selbstständige Schreiberin mit Nachdruck, als wären die Nürnberger Gesetze noch in Kraft, als hätte sich Antisemitismus je gegen andere als die Juden gerichtet und als wären halbe „Semiten“ und ganze Idioten gegen ihn gefeit.

Übrigens findet Muriel Brunswig-Ibrahim auch die Gotteskriegerpartei im Libanon ziemlich knorke, deren „soziales Engagement“ sie in ihrem Reiseführer einfühlsam preist: „Die Hizbollah, einst radikal und menschenverachtend, baute Krankenhäuser auf, Schulen, Waisenhäuser und Rehazentren; außerdem sorgte sie für den Wiederaufbau Beiruts nach dem Bürgerkrieg und schuf eigene Radio- und Fernsehsender“ – die reinste Wohltätervereinigung also. Deren Allah gewogenen Medien seien „nach wie vor antizionistisch“, bildeten „für die Partei Gottes aber“ – wieso aber? Deshalb! – „eine solide Existenzgrundlage und eine Legitimation für ihre weitere zivile Existenz“. Heute spreche die Hizbollah jedenfalls „nicht mehr von einem Gottesstaat, sondern von ‚politischer Verantwortung’“. Was damit gemeint ist, lässt die Verfasserin den „Hizbollah-Fraktionssprecher Muhammad Ghat“ präzisieren: „Wir betrachten unser Bekenntnis zur Demokratie als strategisches Investment, denn welche Zukunft hätte es, gegen die Demokratie zu sein? Natürlich wollen wir den islamischen Staat, aber wenn es dafür keine Mehrheit gibt, dann eben nicht – oder später.“ Ein klarer Fall von Hudna also, aber was das ist, muss man natürlich nicht wissen, wenn man einen Guide über den Nahen Osten schreibt. Wichtiger ist vielmehr dies: „Seit 2002 steht die Hizbollah nicht mehr auf der Liste der terroristischen Vereinigungen der EU, obschon Israel nach wie vor versucht, der Partei diesen Stempel aufzudrücken und so Bombenangriffe auf den Libanon zu legitimieren.“

Wer sich mit Brunswig-Ibrahims Büchlein nach Syrien, Libanon, Jordanien oder in die palästinensischen Gebiete begibt, hat also das folgende wesentliche Reise-Know-How im Gepäck: Die Araber haben an Hitler begreiflicherweise einen Narren gefressen, sind gleichzeitig aber nicht ganz Herr ihrer Sinne, weil sie nicht wissen oder weil ihnen gerade entfallen ist, was der Onkel Adolf sonst noch so alles angestellt hat, außer dass er „gegen die Juden“ war. Die Hizbollah wiederum ist eine Art islamische Caritas, der die Einführung eines Gottesstaates gar nicht so wichtig ist und die von Israel natürlich völlig zu Unrecht bekämpft wird. Das alles sähen auch die Uno und die EU so (womit die Autorin nicht einmal Unrecht hat, was über die genannten Institutionen allerdings eine ganze Menge aussagt).

Eines muss man der 38-Jährigen lassen: Folgt man ihren Unterweisungen, ist man als Deutscher im arabischen Raum tatsächlich auf der sicheren Seite. Und muss außerdem kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn man „Hitler quais“ hört. Denn das kann man schließlich „hervorragend nachvollziehen“. Der KulturSchock ist dann auch gar keiner mehr.

24.5.08

Urbi et Orbi op Kölsch

Joseph Alois Ratzinger aka Benedikt XVI. könnte diese Sätze gewiss auch gesprochen haben, aber von ihm stammen sie gar nicht:
„Da wird es sehr deutlich, wie sehr wir dort aufgefordert sind, gegen jegliche Bestrebungen, die gleichgeschlechtlich ausgeprägt ist, vorzugehen. Gerade den uns anvertrauten Jugendlichen müssen wir mit einem so großen Verantwortungsbewusstsein entgegentreten, dass wir denen einen besonderen Schutz zukommen lassen. [...] Ich würde den Schutz der Kinder über jegliche Liberalisierung stellen.“
Der da so redet, ist vielmehr quasi der Fußballpapst von Kölle, Christoph Daum (Foto) nämlich, Übungsleiter des bekanntesten Fußball- und Karnevalsvereins der Domstadt. Der Klub ist gerade mit Ach und Krach in die Bundesliga aufgestiegen und dann, wie immer, gleich wieder übergeschnappt: Erst verkündete sein Trainer seine vorher fragliche Vertragsverlängerung mit einem Aufriss wie weiland Genscher die Ausreisegenehmigung für die Zonis, dann träumte er öffentlich von der Rückkehr Lukas Podolskis, und schließlich holte er zum Schlag gegen die Schwulen aus. Anlass war die DSF-Sendung „Das große Tabu – Homosexualität & Fußball“, in der auch DFB-Präsident Theo Zwanziger zu Wort kam. Der war kürzlich Gast des „Aktionsabends gegen Homophobie im Fußball“ im Kölner RheinEnergie-Stadion und bot anschließend im DSF – mit hörbaren Einschränkungen allerdings – seine „persönliche Hilfe“ an, falls sich ein Fußballprofi outen wolle: „Wenn mein Zeitplan es hergibt, und ich würde es wahrscheinlich möglich machen, dann würde ich ihn sofort bei mir empfangen, um zu verdeutlichen: Wir sind Freunde.“

Daum war da ganz anderer Ansicht: „Ich hätte wirklich meine Bedenken, wenn von Theo Zwanziger irgendwelche Liberalisierungsgedanken einfließen sollten“, ergänzte er sein eingangs zitiertes Statement. Wo kämen wir schließlich hin, wenn sich im harten Männerfußball jemand nicht selbstverständlich zu seiner Heterosexualität bekennen würde? Dass der 54-Jährige glaubte, seine Tiraden auch noch mit der Berufung auf den „Kinderschutz“ flankieren zu müssen, setzte dem Ganzen die Krone auf – Schwule sind für Christoph Daum ganz offensichtlich Menschen, die den ganzen Tag krankhaft Unmündigen auflauern, um ihnen den Pimmel ungefragt in die falsche Körperöffnung zu stecken. Sein Arbeitgeber hatte angesichts dieser Sprüche arge Mühe, den Coach zu verteidigen. „Daum will keine Gruppe diskriminieren“, behauptete Manager Michael Meier wenig überzeugend, bevor er den sportlich Verantwortlichen vorsichtshalber eine Presseerklärung verbreiten ließ.

„Grundsätzlich bin ich ein toleranter und liberaler Mensch“, behauptet Daum darin. „Ich habe keinerlei Berührungsängste zu homosexuellen Menschen. Auch in meinem Bekanntenkreis gibt es einige, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben.“ Freunde sind sie also nicht, bloß „Bekannte“, was allerdings kein Wunder ist, wenn man es mit einem zu tun hat, der Homosexuelle eigentlich pervers findet. Zurücknehmen wollte der Kölner Trainer seine Äußerungen aber ohnehin nicht: „Kinderschutz geht mir aber über alles“, wiederholte er sich, „Kinder müssen vor Gewalt und sexuellen Übergriffen, ganz gleich, ob von homo- oder heterosexuellen Menschen, geschützt werden“. Besonders natürlich vor den triebhaften Tucken. Denn um die ging’s vorher ja; von Seinesgleichen hat Christoph Daum nicht gesprochen. Der Versuch einer Relativierung darf also als grandios gescheitert betrachtet werden.

„Ihr seid die Hauptstadt der Schwulen“, grölen die gegnerischen Fans bei Spielen des 1. FC Köln oft und gerne, und das ist als Beleidigung gemeint. Gelegentlich schallt es aus dem FC-Fanblock dann – wenn auch zumeist deutlich leiser – zurück: „Wir sind die Hauptstadt der Schwulen!“ Man darf jetzt gespannt sein, ob in den bekanntlich ostentativ toleranten Kreisen der Anhänger des Vereins über die Daumschen Ausfälle diskutiert wird und ob die Homophobie im Fußball überhaupt ein Thema ist. Wahrscheinlicher ist jedoch das Kölsche „Et hätt noch immer joot jejange“, mit dem Konflikte typischerweise ausgesessen werden, bis keiner mehr über sie redet. Mit dem Segen des Papstes, versteht sich.

23.5.08

Enderlin und die Ente

„Das Urteil bedeutet: Wir haben das Recht, zu sagen, dass France 2 einen gefälschten Bericht gesendet hat, dass das Ganze eine inszenierte Ente war und dass der Fernsehsender alle hinters Licht geführt hat – ohne dafür verklagt worden zu sein“, kommentierte Philippe Karsenty, Inhaber des die Medien kritisch kommentierenden Webportals Media Ratings, gegenüber der israelischen Tageszeitung Jerusalem Post die Entscheidung des am vergangenen Mittwoch mit seinem Berufungsprozess befassten Pariser Gerichts. Karsenty hatte France 2 und dessen verantwortlichem Israel-Korrespondenten Charles Enderlin (Foto) nachgewiesen, einen Beitrag über den angeblichen Tod des zwölfjährigen Mohammed al-Dura im Zuge einer Schießerei zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten Ende September 2000 entscheidend manipuliert und Israel zu Unrecht des Mordes an dem Jungen bezichtigt zu haben. Enderlin und France 2 fühlten sich gleichwohl verleumdet und zogen deshalb vor Gericht. Dort unterlag Karsenty zunächst, doch er legte Berufung ein. Nun wurde das Urteil in dieser Instanz gesprochen – und es gibt ihm Recht: Das Appellationsgericht befand, dass die Zweifel an dem Filmmaterial höchst legitim sind und nichts Verleumderisches haben.

Die Bedeutung dieses Spruchs ist kaum zu hoch einzuschätzen, vor allem, wenn man sich an die – und das ist wörtlich zu nehmen – Sprengkraft erinnert, die der „Fall al-Dura“ seinerzeit entfaltet hatte. Die Bilder gingen damals um die Welt: Zwei Tage nach dem Beginn der so genannten Al-Aqsa-Intifada starb, so stellte es France 2 jedenfalls dar, ein palästinensisches Kind bei einem Schusswechsel zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten in den Armen seines Vaters – getroffen angeblich von israelischen Kugeln. Die Aufnahmen stammten von Talal Abu Rahma, einem palästinensischen Kameramann, der für France 2 arbeitete. Charles Enderlin ließ eine 55 Sekunden dauernde Sequenz ohne Prüfung des Materials ausstrahlen und verkündete anschließend im Journal de 20 heures, israelische Soldaten hätten den Knaben mutwillig erschossen, also ermordet.

Der Fernsehbeitrag verfehlte seine Wirkung nicht: Die Aufnahmen von Mohammed al-Duras angeblichem Tod führten zu gewaltsamen Protesten der Palästinenser und sorgte weltweit für Empörung. Das Kind wurde zum Symbol für die neuerliche „Intifada“; diese bezog ihre vermeintliche Berechtigung nicht zuletzt aus den Bildern, die die Brutalität der israelischen Armee zu dokumentieren schienen. Demonstranten grölten „Kindermörder Israel!“, in Ägypten und Tunesien wurden Briefmarken mit dem Konterfei des Jungen gedruckt, und in Kairo benannte man eine Straße nach ihm. Einige wenige jedoch hatten Zweifel an der Aussage des France-2-Stücks. Die französischen Journalisten Denis Jeambar, Daniel Leconte und Luc Rosenzweig werteten schließlich das komplette Filmmaterial aus und fanden keinen Beleg für die Ermordung al-Duras. Wie zuvor schon der Historiker Richard Landes kamen sie zu dem Ergebnis, die gesamte Szenerie sei von der palästinensischen Seite zum Zwecke eines propagandistischen Coups gestellt worden. Dennoch wurde Philippe Karsenty (Foto), der sich auf diese und weitere Recherchen stützte, im Oktober 2006 wegen „Verleumdung“ zur Zahlung einer Geldbuße von 1.000 Euro verurteilt.

Die darauf fällige Berufungsverhandlung hatte bereits im November letzten Jahres stattgefunden; die Entscheidung wurde jedoch erst jetzt verkündet. HonestReporting (HR) hat den „Fall al-Dura“, der zu einem „Fall Enderlin“ wurde, und die Gerichtsverhandlungen Karsentys von Anfang an beobachtet und regelmäßig darüber berichtet. „Philippe Karsentys Beharrlichkeit hat France 2 zur Offenlegung gezwungen und dient als Beispiel dafür, wie die Medien für ihr Material und ihre Berichterstattung verantwortlich gemacht werden sollten“, kommentiert die medienkritische Seite nun den Gerichtsbeschluss. „Die Ikone al-Dura ist vom Sockel gestürzt worden.“ Bernd Dahlenburg hat den HR-Beitrag ins Deutsche übersetzt und auf seinem Weblog Castollux online gestellt; hier sei er nachfolgend ebenfalls dokumentiert. France 2 hat derweil angekündigt, das Kassationsgericht anzurufen.


„Pallywood“-Video von France 2 bringt Verleumdungsklage zum Einsturz

Honest Reporting, 22. Mai 2008
Übersetzung: Castollux

Die ikonenhaften Bilder von Mohammed al-Duras vermeintlichem Tod in Gaza brachten die Palästinenser in Aufruhr und führten zu schrecklichem Blutvergießen. Trotz des Nachweises, dass Israel nicht verantwortlich für die Kugeln war, die al-Dura trafen, und trotz der Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Videomaterials, das während des Vorfalls aufgenommen worden war, hielt die Verleumdung weiter an. HonestReporting berichtete direkt vom Ort des Berufungsverfahrens von Philippe Karsenty. Karsenty hatte France 2 und seinen Reporter Charles Enderlin überführt, Filmmaterial zum al-Dura-Fall manipuliert zu haben.

Zur Erinnerung: France 2 hatte Karsenty zunächst erfolgreich verklagt, bevor dieser seinerseits das Appellationsgericht anrief. Beim Berufungsverfahren wurde ein Teil des Filmrohmaterials, das an jenem schicksalhaften Tag in Gaza gedreht worden war, im überfüllten Gerichtssaal der Öffentlichkeit gezeigt, das bei dieser Gelegenheit zahlreiche Beispiele von „Pallywood“-Inszenierungen zu sehen bekam. France 2 hatte jedoch nur 18 der ursprünglich 27 Minuten Filmmaterial zum Gerichtstermin mitgebracht. Offensichtlich haben die dargestellten Szenen und die Unzuverlässigkeit von France 2-Kameramann Talal Abu Rahma das französische Appellationsgericht überzeugt. Philippe Karsenty ist mit seiner Berufung gegen das Verleumdungsurteil durchgekommen.

Medienkommentator Tom Gross, der schon vorher für HonestReporting im Fall al-Dura Nachforschungen angestellt hatte, äußerte sich zum Urteil: „Der Urteilsspruch heute zeigt, dass die Version der von France 2 dargestellten Ereignisse ernsthaft angezweifelt werden muss und dass die gesamte Weltpresse, darunter auch amerikanische TV-Sender – unverantwortlich genug war, die Behauptungen eines palästinensischen Kameramanns, der für France 2 arbeitet, für bare Münze zu nehmen – ein Kameramann, der seine Parteilichkeit zugegeben hat.“

Dazu Karsenty in einer Stellungnahme nach seinem Sieg: „Die al-Dura-Lüge ist ein Anschlag auf unsere Fähigkeit, zu denken, zu kritisieren, zu bewerten und letztlich Informationen zurückzuweisen – insbesondere auf das Recht, Informationen abzulehnen, die nur unsere Vorurteile bestätigen. Eines der in Europa bestgepflegten Vorurteile ist, dass Israel ein böses, naziähnliches Gebilde sei, das absichtlich palästinensisch-arabische Kinder töte. Überdies haben in Europa durchgeführte Umfragen ergeben, dass Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden betrachtet wird, mehr noch als der Iran und Nordkorea, Pakistan und Syrien. Der al-Dura-Schwindel ist eine der Säulen, auf denen sich diese Annahmen stützen. [...] Jetzt ist es an der Zeit für France 2, einzugestehen, dass es die schlimmste antisemitische Verleumdung der heutigen Zeit produziert hat und weiterhin aufrecht erhält.“

Was bedeutet das?

Während der Abfassung dieses Textes war die ausführliche Urteilsbegründung noch nicht an die Medien weitergegeben worden. Endre Mozes von Take A Pen war jedoch im Gerichtssaal und lieferte HonestReporting Berichte aus erster Hand. Er sprach auch mit einigen mit dem Fall betrauten Anwälten, die schon einen Vorabdruck der Urteilsbegründung gelesen hatten. Nach seinen Beobachtungen und den Bemerkungen der erwähnten Anwälte stimmte das Gericht mit dem Argument überein, dass Protagonisten, die in undemokratischen Regimes wie zum Beispiel in den Palästinensischen Gebieten operieren, von Natur aus weniger zuverlässig und sorgfältig arbeiten und deshalb genauso akkurat geprüft werden sollten, wie dies im Fall Talal Abu Rahma hätte geschehen müssen.

Im Wesentlichen hat der Gerichtshof entschieden, dass das Ausmaß des Zweifels am Filmmaterial im Fall al-Dura eine sorgfältigere Analyse rechtfertigt. Zweifel sind also durchaus legitim – nicht verleumderisch. Philippe Karsentys Beharrlichkeit hat France 2 zur Offenlegung gezwungen und dient als Beispiel dafür, wie die Medien für ihr Material und ihre Berichterstattung verantwortlich gemacht werden sollten. Das al-Dura-Material von France 2 ist bei der Ansicht im Gerichtssaal als unglaubwürdig und möglicherweise sogar als Fälschung eingestuft worden. Im Zusammenhang mit einigen Nachforschungen, die zu dem Schluss kommen, dass Israel für die abgegebenen Schüsse nicht verantwortlich war, die angeblich den Jungen töteten, ist die Ikone al-Dura – das Gebäude, auf dem so viel Feindschaft gegenüber Israel errichtet und von bereitwilligen Medien weitergeleitet wurde – vom Sockel gestürzt worden.

Lesetipp: „Die Bilder werden bewusst lanciert“ – Interview der Wochenzeitung Jungle World mit der Journalistin Esther Schapira, die 2002 für den Hessischen Rundfunk unter dem Titel „Drei Kugeln und ein totes Kind“ eine TV-Dokumentation zum „Fall al-Dura“ produziert hatte.

21.5.08

Abschied von einer Lichtgestalt

Für Fußballtrainer gibt es wohl kaum etwas Unangenehmeres, als sich nach Niederlagen sofort den bohrenden Fragen der Medien zu stellen und dabei auch noch die Contenance bewahren zu sollen. Interviews und Pressekonferenzen finden ja für gewöhnlich nur wenige Minuten nach dem Schlusspfiff statt, zu einem Zeitpunkt also, da die sportlich Verantwortlichen selbst noch die Schlappe verarbeiten müssen und auf der Suche nach Erklärungen für sie sind. Ottmar Hitzfeld aber hat in solchen Situationen immer kontrolliert und beherrscht gewirkt; nie war er unhöflich oder gereizt, obwohl beim FC Bayern München jedes verlorene Spiel einen kleinen Weltuntergang bedeutet. Fast schon übermenschlich war es sogar, wie gefasst er nach dem längst zur Legende gewordenen Champions-League-Finale 1999 in Barcelona, das seine Mannschaft nach einer 1:0-Führung gegen Manchester United in der Nachspielzeit noch mit 1:2 vergeigte, vor die Kameras trat. Während der Klub und seine Anhänger von dem Schock noch wie gelähmt waren, gratulierte Hitzfeld dem Gegner, sprach über die Gründe für den Sekundentod und ging so rational wie nur irgend möglich mit dem eigentlich Unbegreiflichen um. Wenn es stimmt, dass sich wahre Größe erst im Moment der Niederlage zeigt, dann ist Ottmar Hitzfeld einer der Allergrößten.

Zwei Jahre später gewannen die Bayern schließlich doch noch die europäische Königsklasse, weil die denkbar schmerzhafte Pleite das Team nicht auseinanderdividierte, sondern im Gegenteil den berühmten Jetzt-erst-recht-Effekt auslöste. Und das war zweifellos zu einem maßgeblichen Teil ein Verdienst des Trainers, diesem „Meister der Dezenz, der Zurückhaltung und der Deeskalation“, wie ihn Dietmar Bruckner in der Zeit nannte. Überhaupt war er der optimale Coach für den Münchner Erfolgsklub, vor allem im Gespann mit Manager Uli Hoeneß: Während Hitzfeld den Medien gegenüber stets diskret, sachlich und reserviert auftrat und ihnen nie einen Anlass für Sensationsgeschichten bot, gab Hoeneß mit Leidenschaft den gefühlsbetonten Giftzwerg, den rauflustigen Rammbock, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und sie dadurch vom Trainer (sowie der Mannschaft) fern hielt, so gut es ging. Als es 2004 dann schließlich nicht mehr ging, weil die Elf unübersehbar stagnierte und ihr sportlicher Leiter die Magie von einst verloren zu haben schien, trennten sich die Bayern nach sechs Jahren von Ottmar Hitzfeld, wenig formvollendet und von Misstönen begleitet.

Nur zweieinhalb Jahre danach, im Februar 2007, saß er jedoch erneut auf der Bank des Rekordmeisters, denn sein Nachfolger Felix Magath hatte es trotz zweier Meisterschaften und Pokalsiege nicht geschafft, eine ähnliche Aura auszustrahlen oder gar eine eigene Ära zu begründen. Es war Hitzfelds Glück, dass die trotz seiner Wiederverpflichtung verkorkste Saison 2006/07 nicht ihm, sondern seinem Vorgänger angelastet wurde und der Klub zudem das Festgeldkonto plünderte, um mit gestandenen internationalen Kickern wie Ribéry, Toni und Klose den Erfolg zurückzuholen. Dass das zumindest auf nationaler Ebene gelang, lag nicht zuletzt an Hitzfelds ausgeprägter Fähigkeit, eine Ansammlung von eitlen und teuren Stars zu moderieren und sie auf ein Ziel einzuschwören. Dabei ließ er ihnen gewöhnlich all ihre Marotten und gewährte ihnen auch branchenunübliche Freiheiten, solange die Ergebnisse stimmten. Ein Disziplinfanatiker war der Lörracher nie und auch keiner, bei dem es Beschwerden über zu hartes Training gegeben hätte; seine Akzeptanz bei den Profis war durchweg unumstritten. Dass Hitzfeld besser mit „fertigen“ Spielern umgehen kann als Talente fördern, ist kein Geheimnis, sondern letztlich sein Erfolgsrezept; er ist weniger der klassische Fußballlehrer oder Taktikfuchs, sondern vor allem ein Stratege und Diplomat mit scharfem Verstand.

Wie stark er trotz seiner besonnenen und nüchternen öffentlichen Auftritte den Fußball lebt und wie sehr ihm dieses Geschäft zusetzt, spürte man gleichwohl vor allem in den letzten knapp eineinhalb Jahren. Hitzfelds Mienenspiel auf der Trainerbank war ein getreues Spiegelbild dessen, was seine Auswahl gerade auf dem Platz fabrizierte; die oft verkniffenen, gestressten Gesichtszüge hier und der erleichterte Jubel dort zeigten seinen jeweiligen Gemütszustand wesentlich deutlicher an als in seiner ersten Schaffensphase beim FC Bayern. Ottmar Hitzfeld litt sichtbar. Die Last für ihn war gerade in dieser Saison aber auch weitaus größer als zuvor schon, denn sowohl die Klubführung als auch das verwöhnte Publikum erwartete von ihm und seinem mit 80 Millionen Euro teuren Spielern verstärkten Ensemble nicht nur Titel, sondern außerdem berauschenden Fußball. Als es zum Ende der Vorrunde dann nicht mehr so rund lief wie noch zu Beginn und Bayern-Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge den Coach mit einer spitzen Bemerkung anging, die auf Hitzfelds erlernte Tätigkeit als Lehrer abstellte („Fußball ist keine Mathematik“), zog der stets loyale 59-Jährige in der Winterpause die nachvollziehbare Konsequenz und teilte seinen Vorgesetzten mit, er werde seinen zum Saisonende auslaufenden Vertrag nicht mehr verlängern.

Die Bayern präsentierten umgehend Jürgen Klinsmann als Nachfolger und lenkten so erfolgreich von der Debatte um ihren Noch-Trainer ab, hatten gleichzeitig aber ein Problem: Was, wenn die Mannschaft die Zügel in der Rückrunde schleifen lässt und die Vereinschefs dadurch in die Situation bringt, über eine vorzeitige Trennung von Hitzfeld nachdenken zu müssen? Das wäre in sportlicher wie in menschlicher Hinsicht ein Desaster gewesen und hätte nachhaltige Schäden zur Folge gehabt – aber es kam bekanntlich anders, und das spricht sowohl für die Charakterstärke und Professionalität der Spieler als auch für die Motivationsfähigkeit, Autorität und Respektabilität ihres Übungsleiters. Am Ende stand neuerlich der souveräne Gewinn von Meisterschaft und Pokal, und der Abschied war nicht nur versöhnlich, sondern auch hoch emotional. Dass die Tränen, die Ottmar Hitzfeld am vergangenen Samstag weinte, „Tränen des Glücks“ waren und gleichzeitig vom „Druck aus sieben Jahren“ zeugten, der nun vorüber ist, glaubt man ihm gerne.

Der Zeitpunkt der Trennung ist dabei sowohl für den FC Bayern als auch für Hitzfeld selbst ein günstiger: Der Trainer verlässt seinen langjährigen Klub als Double-Gewinner und nicht wie 2004 ohne Titel; ob die Liaison ein weiteres Jahr gehalten hätte, darf als fraglich gelten. Denn international wurden dem Verein einmal mehr seine Grenzen aufgezeigt, und dabei war nicht zu übersehen, dass die Mannschaft trotz der prominenten Neuzugänge erhebliche technische und taktische Defizite aufweist, die Hitzfeld zumindest mitzuverantworten hat. Zwar dominierten die Bayern die Bundesliga vor allem dank der individuellen Klasse ihrer Spieler; auf europäischer Ebene aber war der Klub nicht nur vom One-Touch-Fußball à la Manchester United oder FC Chelsea Lichtjahre entfernt, sondern auch vom schnellen Systemfußball, wie ihn Zenit St. Petersburg beispielsweise beim 4:0 im Rückspiel des UEFA-Cup-Halbfinals gegen die Münchner gezeigt hat. Ob Hitzfelds Erbe Jürgen Klinsmann diesbezüglich Entscheidendes bewegen kann, bleibt abzuwarten; seine Konzeption vom modernen Fußball geht jedenfalls erkennbar in diese Richtung.

Dessen ungeachtet wird Ottmar Hitzfeld nicht nur den Bayern-Fans fehlen, die ihn vor, während und nach seinem letzten Spiel für fünf deutsche Meisterschaften, drei Pokalsiege, den Gewinn der Champions League und des Weltpokals feierten. In der Schweiz wiederum freut man sich schon auf ihn, wenn er nach der Europameisterschaft im Sommer die „Nati“ übernimmt, um sich mit ihr für die Weltmeisterschaft 2010 zu qualifizieren. Und jede Wette: Das Double mit den Bayern wird nicht das Letzte sein, was der Meistertrainer in seiner Laufbahn gewonnen hat.

19.5.08

Allahu Nakba!

Im postmodernen Einerlei gibt es bekanntlich keine Realität, sondern nur lauter prinzipiell gleichberechtigte „Narrative“ – also „Erzählungen“ –, weshalb es sich dort mit der Wirklichkeit so ähnlich verhält wie mit dem berühmten Schokoriegel, der für die einen halt nur eine Süßigkeit ist und für die anderen die längste Praline der Welt. Genauso mag sich die deutsche Medienlandschaft nicht festlegen, wie sie eigentlich zu sechzig Jahren Israel stehen will; was für die Juden Anlass zum Feiern ist, betrauern die Palästinenser schließlich als „Nakba“, als Katastrophe also, die der jüdische Staat mit seiner Gründung herbeigeführt habe – und wer will da schon Partei ergreifen? Ergo ließen die Redaktionen ausführlich die vermeintlichen Opfer der Opfer zu Wort kommen, vordergründig um das bemüht, was als „Ausgewogenheit“ gilt und letztlich doch nicht mehr ist als die Kolportage einer veritablen antizionistischen Geschichtsfälschung, in der die Shoa und die „Nakba“ mal de facto und mal expressis verbis gleichgesetzt werden.

In den Tagesthemen beispielsweise porträtierte Richard Chaim Schneider den Bewohner eines „Flüchtlingslagers“, der dort „auf seine Rückkehr nach Palästina“ warte. „Flüchtlingslager“ – das klingt nach provisorischer Zeltstadt und erbärmlichem Dahinvegetieren, doch die Wirklichkeit war und ist eine andere. Anfangs wurden diese Lager noch von den Vereinten Nationen betrieben, und der Lebensstandard in ihnen war nachweislich vielfach besser als außerhalb. Auch heute handelt es sich in aller Regel um kleine Städte, die jedenfalls nichts mit dem gemein haben, was man sich üblicherweise unter einem Flüchtlingslager vorstellt. Vor allem aber zeugt deren Fortexistenz von der fehlenden Bereitschaft der arabischen Staaten, die Flüchtlinge zu integrieren; die Palästinenser waren als Manövriermasse gegen Israel stets willkommen, aber zu Staatsbürgern wollte man sie nicht machen. Das jedoch ließ Schneider unerwähnt, und selbst das „Zur Hölle mit den Juden“ des von ihm mit erkennbarer Sympathie Vorgestellten war dem ARD-Korrespondenten keinen Kommentar wert.

Die Süddeutsche Zeitung wiederum ließ den Leiter des Dritte-Welt-Zentrums München, Fuad Hamdan, zu Wort kommen, der sich vermutlich vor allem dadurch für einen Gastbeitrag qualifiziert haben dürfte, dass „das Dorf seiner Eltern 1948 von der israelischen Armee zerstört worden war“. Hamdan darf deshalb von „ethnischen Säuberungen“ durch „jüdische Verbände“ schwadronieren, von der „Entrechtung eines ganzen Volkes“ und von den angeblichen Parallelen zwischen Israel „und dem Apartheidregime in Südafrika“, das „nur durch Boykott der Weltgemeinschaft besiegt und beendet“ worden sei – womit der Autor zugleich deutlich machte, dass er die Forderung „Kauft nicht beim Juden!“ auch 63 Jahre nach Auschwitz und sechs Jahrzehnte nach der Gründung des jüdischen Staates für legitim und erfolgversprechend hält.

Beiträge von ähnlicher Qualität gab es auch in anderen deutschen Medien zuhauf; ganz selbstverständlich war allenthalben vom „Trauma“ der Palästinenser die Rede, das eine Folge der „jüdischen Landnahme“ respektive der „Judaisierung palästinensischen Bodens“ (Fuad Hamdan) sowie der anschließenden Flucht und Vertreibung sei – und zwar bis heute. Der neueste Kniff ist dabei, auch die Palästinenser zu Holocaust-Opfern zu machen. „Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache: Die palästinensische Tragödie ist eine Folge der jüdischen Tragödie in Europa“, formulierte Hamdan ganz in diesem Sinne paradigmatisch; schließlich sei der israelische Staat „auf den Ruinen eines anderen Volkes“ entstanden. Mit der historischen Wahrheit hat das alles zwar wenig gemein, aber die erscheint im Kosmos der „Diskurse“ ohnehin bloß als bürgerliche Illusion.

In den überregionalen Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten kam jedenfalls niemand auf den Gedanken, dass die „Nakba“ hausgemacht und selbstverschuldet sein könnte. Hausgemacht, weil sich die palästinensischen und arabischer Führer weigerten, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren, die von den Vereinten Nationen 1947/48 angeboten worden war. Selbstverschuldet, weil es diesen Führern und ihren Nachfolgern samt Gefolgschaft nie ernsthaft um die Gründung eines palästinensischen Staates ging, sondern immer nur um die Zerstörung des israelischen. Anders gesagt: Ohne Ablehnung des UN-Teilungsplans keine „Nakba“, ohne Kriegserklärung an Israel keine „Nakba“. 700.000 Palästinenser verließen während des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 – den die Feinde des jüdischen Staates bekanntlich zu einem genozidalen erklärt hatten – ihre Häuser: einige aus eigenem Antrieb, einige auf Druck der arabischen Führer und einige durch den Zwang des israelischen Militärs. Keiner dieser Menschen hätte Israel verlassen müssen, wenn die Palästinenser und die arabischen Staatsführungen den Willen gezeigt hätten, eine Zweistaatenlösung zu befürworten.

Doch sie hegten und pflegten lieber den „Nakba“-Mythos, der stets vor allem dazu diente, sämtliche Probleme und Nöte der Palästinenser auf die schiere Existenz eines jüdischen Staates im Nahen Osten zurückzuführen und jegliche Eigenverantwortlichkeit für die Misere schlicht zu negieren. Hätten sie sich doch nur ein einziges Mal Israel zum Vorbild genommen! „In den Jahren nach 1945 wäre es für den Yishuv einfach gewesen, der britischen Herrschaft, der arabischen Opposition und dem Trauma der Shoa die Schuld zu geben, sich im Sumpf der Selbstgerechtigkeit zu suhlen und dabei zu erklären, warum ein jüdischer Staat unter solch schwierigen Bedingungen nicht gegründet werden konnte“, schrieb kürzlich der israelische Politikwissenschaftler Shlomo Avineri in der Haaretz. „Doch das von Herzl gegründete Rahmenwerk der zionistischen Bewegung mit ihren gewählten Institutionen, ihrer Mehrparteienvielfalt, die in einer grundsätzlichen Solidarität verankert war, und der Formulierung einer nationalen Autorität trotz Fällen von Unstimmigkeiten und Absplitterungen – all dies lieferte eine organisatorische und institutionelle Basis, die es möglich machte, die menschlichen und wirtschaftlichen Ressourcen einzusetzen, die nötig waren, um mit der harten Realität, die der UN-Teilungsresolution folgte, umzugehen.“

Die Palästinenser jedoch brachten weder einen Denker wie Herzl noch einen integrativen und entschlossenen Politiker wie Ben Gurion hervor, sondern nur antisemitische Desperados und korrupte Bandenchefs, die unfähig waren und sind, den politischen Realitäten ins Auge zu sehen und ein funktionierendes Staatswesen zuwege zu bringen. Noch die weitestgehenden Angebote Israels wurden erst in den Wind geschlagen und dann mit Terror quittiert, weil die „Befreiung ganz Palästinas“ – ein Euphemismus für die Vernichtung des jüdischen Staates – die conditio sine qua non blieb. Und so ruinierten die palästinensischen Politfunktionäre auch ihre – von den Europäern und den USA zu nicht eben geringen Teilen finanzierte – Selbstverwaltung gründlich und nachhaltig selbst.

Die eigentliche „Nakba“ spielt sich heute vor allem im Gazastreifen ab, den Ariel Sharon vor drei Jahren von allen jüdischen Siedlungen hatte räumen lassen. Was in diesem Gebiet anschließend geschah, ist symptomatisch: Die Israelis hatten unter anderem „die Gewächshäuser hinterlassen, in denen Gemüse, Obst und Blumen produziert wurden“, rief Karl Pfeifer die Situation des Jahres 2005 in Erinnerung. „Die Hamas ließ diese von einem Mob zerstören, und heute machen Einwohner von Gaza die Israelis dafür verantwortlich, dass sie so wenig Gemüse und Obst konsumieren. Vor allem aber nutzte die Hamas die Räumung, um eine Basis für den Terror zu schaffen und Israel innerhalb der Waffenstillstandslinien von 1949 bis heute mit Raketen zu beschießen.“ Wie diese Terrortruppe den 60. Jahrestag der „Nakba“ inszenierte, zeigt eindrucksvoll ein Filmbeitrag der IBA-News: Die Hamas ließ Kindersoldaten aufmarschieren (oberes Foto), die Kassam-Raketen schulterten und das „Victory“-Zeichen entboten – in den deutschen Medien wurde das jedoch wie üblich mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt.

Stattdessen betrieb man dort eine Mythenpflege, bei der nicht nur notorische Antizionisten, sondern auch deutsche Vertriebenenfunktionäre feuchte Augen bekommen haben dürften; schließlich werden die Palästinenser hierzulande nicht selten gewissermaßen als Sudetendeutsche des Nahen Ostens gehandelt. Fuad Hamdans Parole „Unrecht bleibt Unrecht, auch nach sechzig Jahren“ klingt daher nicht zufällig wie das Motto einer Versammlung deutscher „Heimatvertriebener“. Revanchismus? I wo. Bloß eine Frage des „Narrativs“. In diesem Sinne: Allahu Nakba!

Lesetipp: Martha Gellhorn, The Arabs of Palestine, in: Atlantic Monthly, Oktober 1961. – Ein Dankeschön an Christian Maaß für wertvolle Hinweise.

14.5.08

Der beste Freund Israels

An salbungsvollen Worten fehlte es durchaus nicht, als das offizielle und offiziöse Deutschland dem Staat Israel unlängst zu dessen 60. Geburtstag gratulierte. Von „Freundschaft“ und einer „besonderen Verantwortung Deutschlands“ für den jüdischen Staat war da die Rede, vom gelungenen christlich-jüdischen Dialog und von intakten diplomatischen, kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen. Dass das nicht einmal die halbe Wahrheit ist, zeigen zum einen zahllose Talkshows und Dokumentationen, Radio- und Fernsehbeiträge, Zeitungskolumnen und offene Briefe sowie Umfragen und Erhebungen, aus denen der als „Israelkritik“ kostümierte Antisemitismus nur so quillt. Zum anderen erweisen sich aber auch die Treueschwüre des verantwortlichen politischen Personals als hohle Phrasen, denn sie bleiben ohne handfeste Konsequenzen – insbesondere deshalb, weil nichts unternommen wird, um die iranischen Vernichtungspläne zu durchkreuzen. Christian J. Heinrich zeigt in seinem Gastbeitrag für Lizas Welt, wie übel dem Jubilar jenseits aller Bekenntnisse hierzulande mitgespielt wird – seit ehedem.

VON CHRISTIAN J. HEINRICH

„Deutschland ist der beste Freund Israels!“ – so schallt es am 8. Mai 2008 bei den Festlichkeiten zum 60. Geburtstages des jüdischen Staates über den Berliner Gendarmenmarkt. Weil man dem Gehörten wohl nur zu gern Glauben schenken möchte, applaudieren die zwei- oder dreihundert Versammelten den drei Herren auf der Bühne: dem Gesandten des Staates Israel, Ilan Mor, dem Präsidenten des deutschen Bundestages, Norbert Lammert, und natürlich dem Vizepräsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Jochen Feilcke, der immer dabei ist, wenn es unter blau-weißen Wimpeln etwas zu feiern gibt und hinreichend Kameras und Mikrofone das festzuhalten bereit sind. Dann sagt Feilcke Sätze wie: „Israel soll nicht immer nur als Land der Krise wahrgenommen werden.“ Es gehe vielmehr auch darum, das „touristisch Reizvolle“, die „Innovationen des Landes“ und dessen „positive Kraft“ zu zeigen. „Israel at its best“, das ist einer seiner innovativen Marketing-Sprüche. Auf dem Fest gibt es derweil bunte Broschüren, Imbissbuden und eine Hüpfburg. Wer zehn Euro übrig hat, kann diesen Betrag spenden. Davon kauft der Verein vom Herrn Feilcke dann dem Staat Israel einen Olivenbaum. Es könnte alles so schön sein, so schön wie im Paralleluniversum auf dem Gendarmenmarkt.

Doch laut einer Umfrage der BBC vom Frühjahr 2007 sind 77% der Deutschen der Ansicht, Israel habe einen negativen Einfluss auf die Welt. Zuvor schon hatten 65% der Deutschen in einer Umfrage der Europäischen Kommission geäußert, Israel sei nicht nur eine, nein, Israel sei die Gefahr für den Weltfrieden. Das war 2003, auf dem Höhepunkt der zweiten „Intifada“, als bei 20.406 Anschlägen, darunter 138 Selbstmordanschlägen und 13.730 Schussüberfällen sowie 460 Angriffen mit Kassam-Raketen, mehr als 1.063 Israelis ermordet und mehr als 7.054 verwundet wurden.

Die Fantasien der „Israelkritiker“

Hierzulande ängstigt man sich nämlich vor Israel. Der renommierte Nahostexperte Igal Avidan hat in seinem neuesten Sachbuch mit dem Titel Israel. Ein Staat sucht sich selbst deshalb gleich zweimal den israelischen Historiker Benny Morris in durchaus kritischer Absicht zitiert: „Ohne die Ausrottung der 700.000 Palästinenser wäre ein jüdischer Staat erst gar nicht entstanden“, soll Morris geschrieben haben. Und weiter: „Es gibt keinen Grund, warum die Juden nicht selbst einen Staat besitzen dürfen, auch um den Preis der Ausrottung der Palästinenser.“ Man muss den jüdischen Staat wirklich fürchten, wenn selbst seine kritischsten Bürger – und ein solcher ist Benny Morris zweifelsohne – die „Ausrottung der 700.000 Palästinenser“ für akzeptabel halten. Es ist das Verdienst Igal Avidans, diese Zitate einem deutschen Publikum in deutscher Sprache zur Verfügung gestellt zu haben.

Doch gestattet man der eigenen Vernunft einige Betriebsamkeit, so muss man bei der Rede von der „Ausrottung der Palästinenser“ doch aufmerken und sich auf die historischen Tatsachen besinnen. Benny Morris schrieb im englischsprachigen Original, das Avidan zu übersetzen versuchte, von „uprooting“. Das bedeutet allerdings keineswegs „ausrotten“, sondern vielmehr „entwurzeln“. Avidan jedoch lässt die Israelis hunderttausendfach Palästinenser ermorden, obwohl der so falsch zitierte Benny Morris dies keinesfalls bezeugen möchte. Und so wird aus Avidans vorgeblicher Leistung – der sachkundigen Aufklärung der Deutschen über Israel – eine erhellende Freudsche Fehlleistung, die auch den wohlmeinenden Rezensenten, ob nun in der Berliner Zeitung oder in der Süddeutschen Zeitung, nicht aufgefallen ist. Denn mit Avidans Übersetzungskünsten werden schließlich die üblichen wahnhaften antiisraelischen Projektion bedient. Auch die Lektoren des zum Hugendubel-Konsortium gehörenden Diederichs-Verlags haben sich daran nicht gestört – warum auch? Außer dem Nahostexperten Igal Avidan wird hier, neben allerlei esoterischer Fachliteratur, nämlich nicht zuletzt der notorische Antisemit Norman Finkelstein verlegt.

Wenn man sich allerdings auf historische Tatsachen einlässt (und außerdem bei Übersetzungen eher dem Oxford Dictionary denn dem antiisraelischen Ressentiment vertraut), dann stellt sich die Situation doch gänzlich anders dar. Denn der real existierende Judenstaat hält angesichts der fortwährenden Vernichtungsdrohungen und -versuche nichts von den neuen deutschen Tugenden des Pazifismus und der Wehrlosigkeit; er hält nichts vom demutsvollen Vertrauen auf willentlich willenlose Staatengemeinschaften. Während die errichteten Sperranlagen zu den Gebieten der palästinensischen „Selbstverwaltung“ Israel leidlich vor Selbstmordattentaten schützen und Teheran mit großem Vernichtungspotenzial nach einer „Welt ohne Zionismus“ strebt, fordert ganz Deutschland kirchentagskompatibel immer noch und zuallererst von Israel „ein bisschen Frieden“.

Ganz Deutschland? Nein: Wenigstens jemand wie Wiglaf Droste hat sich gänzlich unpazifistisch die rechten „Lehren der ’45er“ mit Blick durch Kimme und Korn einer 45er Magnum zusammengereimt: „Die andre Wange jesusmäßig hinhalten ist Quatsch mit Soße / In seine Feinde soll man Löcher machen, und zwar große.“ Doch solche vernünftigen Erwägungen sind, sofern es um das Selbstverteidigungsrecht des jüdischen Staates geht, in Deutschland mitnichten mehrheitsfähig.

Grassdeutsche

Mangelnde Mehrheitsfähigkeit ist dagegen nicht das Problem des Günter Grass und anderer Gesellen seines Schlages: Sie nämlich haben ganz andere Lehren aus 1945 gezogen. Das hat Gründe: Den Einmarsch der Alliierten empfanden sie, gleichwohl anderes behauptet wird, nicht als Befreiung, sondern als Niederlage. So trachteten sie zum Kriegsende recht verdrossen, die Runen der SS vom Mantel zu entfernen, um in amerikanischer Kriegsgefangenschaft sich als Mitläufer und irrlichternde Verführte dar- und verstellen zu können. Damit übten sich die prospektiven Vergangenheitsaufarbeiter schon früh in der Rolle des neuen, des unschuldigen Deutschen, ja des eigentlichen Opfers eines so tragischen Schicksals. Als wäre dieses hektische Nesteln am Mantel der eigenen Geschichte nicht Schande genug, sorgten sich die viel zu nachsichtig behandelten Grassdeutschen nach ’45 – ein bisschen Kontinuität wollte man sich allemal gönnen – unvermindert um die Juden und erklärten jene ungebeten zu „Freunden“, deren Endlösung sie nicht gänzlich vollbracht hatten.

Als viele Überlebende dieser neuen deutschen „Freundschaft“ jedoch nicht trauten und nach Tel Aviv und Jerusalem gingen, um selbstbestimmt und nicht auf fremder Länder Wohlwollen angewiesen ein jüdisches Refugium, einen eigenen Staat zu schaffen, da war dem derart gekränkten Narzissten Grass nichts „beschämender als die kritiklose Feigheit vor dem Freund“. Mutig transformierte er mit seinen alten Kameraden und neuen Genossen die alte Obsession – den rassistischen Antisemitismus – in eine neue: So ereignete sich die Geburt der „Israelkritik“ aus dem Geist der Täterschaft von Auschwitz. Denn mit der Vernichtung der europäischen Juden und ihrem durch die Alliierten erzwungenen Ende war der herkömmliche Antisemitismus zwar gänzlich unhaltbar geworden, doch wollte man von den Juden mitnichten lassen.

Nach der „Lösung der Judenfrage“ wurde deshalb die „Lösung der Israelfrage“ ein vordringliches nationales Projekt Deutschlands. Weil die zeitgenössischen „Israelkritiker“ nicht zugeben wollen, aber doch wohl ahnen, dass ihre „Kritik“ nichts als die transformierte und aktuell opportune Form des antijüdischen Ressentiments ist, mühen sie sich um die strenge begriffliche Scheidung von Antisemitismus – den man mit großem rhetorischen Aufwand ablehnt – und Antizionismus – dem man als einem von der Geschichte (noch) nicht desavouierten Begriff mit reinem Gewissen anhängen möchte. Doch haben diese „Kritiker“ Israels, die oft von akademischer Seite assistiert werden, mit ihrer Differenzierung so Unrecht; gibt es wirklich keinen nicht-antisemitischen Antizionismus?

(Selbst-) Aufklärung

Es gab ihn, und er hatte einst ehrenwerte Motive. Um seine „Lösung der Judenfrage“ gebeten, erklärt Thomas Mann 1907, er glaube „steif und fest, dass ein Exodus, wie die Zionisten von der strengen Observanz ihn träumen, ungefähr das größte Unglück bedeuten würde, das unserem Europa zustoßen könnte“. Ein Unglück für Europa zuvörderst. Mann verharrt keineswegs im Lamento über den „unentbehrlichen europäischen Kultur-Stimulus, der Judentum heißt“, also jenem Lamento, das nach Auschwitz zur gedenkpolitischen Phrase verkam. Er empört sich vielmehr in selten drastischer Weise über die Frage selbst, die ja die Infragestellung des Judentums implizierte. Über Juden „in irgendeinem feindseligen und aufsässigen Sinne zu diskutieren, scheint mir so roh und abgeschmackt, dass ich mich ungeeignet fühle, zu solcher Diskussion auch nur ein Wort beizusteuern.“ Dann setzt er fort: „Ich glaube, dass die ‚Judenfrage’ nicht gelöst werden wird, nicht von heute auf morgen, nicht durch Zauberwort, heiße es nun Assimilation, Zionismus oder wie auch immer, sondern dass sie sich selber lösen – sich wandeln, entwickeln, auflösen und eines Tages, der in unseren Gegenden nicht gar zu fern zu sein braucht, einfach nicht mehr existieren wird.“

Thomas Mann, der an gleicher Stelle demonstrativ herausstellt, er sei, „wenn auch sonst mit ganz zweifellosen Überzeugungen nicht sehr reich gesegnet, ein überzeugter und zweifelloser ‚Philosemit’“, ringt in dieser polemisch überhöhten Form jene antisemitischen Ressentiments nieder, von denen er selbst zeit seines Lebens nie ganz frei wurde, und mit denen auseinanderzusetzen ihm immer auch ein qualvoller Akt der Aufklärung als Selbstaufklärung blieb.

Als er die „Judenfrage“ zurückwies, ja vielmehr erhoffte, dass sie „im allgemeinen kulturellen Fortschritt“ schlicht nicht mehr gestellt werden würde, war die Shoa für vernunftgeleitete Menschen noch gänzlich jenseits des auch nur entfernt Vorstellbaren. Und doch ahnte Thomas Mann schon: Wenn der Zionismus durch das Fortwirken allein des herkömmlichen Antisemitismus als Lösung Dringlichkeit erhielte, so wäre dies nicht zuletzt deshalb „das größte Unglück, [...] das unserem Europa zustoßen könnte“, weil dann nämlich der Fortschrittsoptimismus sich als unbegründet erwiese und die überfällige „Zivilisierung Europas“ gescheitert wäre. Thomas Manns Ablehnung der zionistischen Lösung ist daher von der Furcht diktiert, die Zionisten würden mit ihrem Pessimismus bezüglich Europa Recht behalten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er noch nicht, dass auf die allenthalben betriebene Erörterung der „Lösung der Judenfrage“ der Versuch einer „Endlösung der Judenfrage“ folgte.

So also antwortete Thomas Mann vor einhundert Jahren auf die „Judenfrage“, indem er sie erbost zurückwies. Inzwischen weiß man, wie gänzlich anders Günter Grass – jener deutscher Dichter, Denker und Nobelpreisträger, mit dem wir heute vorlieb zu nehmen haben – auf die „Israelfrage“ reagiert. Dafür ist er in Israel hinreichend unbeliebt und wurde er 1971 bei seinem zweiten Besuch im jüdischen Staat mit Tomaten beworfen. Derart von seinen „Freunden“ behandelt, besuchte Grass Israel nicht wieder. Doch das raubte ihm keineswegs die Motivation zum Kümmern und Bekümmern, wenn es um Juden geht – ist er doch der primus inter pares in der Volksgemeinschaft der Vergangenheitsaufarbeiter.

Wo sind die Antifaschisten?

Der amerikanische Historiker Jeffrey Herf, der den Deutschen bislang attestierte, ihre Vergangenheit geradezu „in beispielhafter Weise“ aufgearbeitet zu haben, konnte sich bei einem längeren Studienaufenthalt in Berlin 2007 nur wundern, dass hierzulande jedes Bewusstsein dafür fehlt, „dass einige der extremen Ideen der Dreißiger- und Vierzigerjahre in einer anderen Form weiterleben, nämlich im radikalen Islam“. Herf sieht darin das Unvermögen, aus der deutschen Vergangenheit die richtigen Schlüsse zu ziehen: „Offenbar ist es in Deutschland heute viel einfacher, über tote Juden zu reden als über lebende, die heute bedroht werden.“ Herf meint, jetzt zeige sich, „dass angesichts des Krieges im Irak, des Terrors radikaler Islamisten und der Gefahr einer iranischen Atombombe in Teilen der deutschen Öffentlichkeit die Gegnerschaft zu den USA und Israel ein beunruhigendes Übergewicht erlangt hat gegenüber der Fähigkeit, neue Formen des Antisemitismus, ja, sogar die mögliche Bedrohung Israels durch Massenvernichtungswaffen, zu erkennen und dagegen anzugehen“. Dass es aber weniger an der Fähigkeit, sondern vielmehr am Willen liegen könnte, dem Regime in Teheran in den Arm zu fallen, ja, dass es gewisse Schnittstellen zwischen der „Israelkritik“ europäischer Herkunft und den antiisraelischen Vernichtungsdrohungen islamischer Provenienz geben könnte, deutet Herf nur vage an. Nahezu verzweifelt ruft er in den neudeutschen Eichenwald: „Wo sind die Antifaschisten?“, und es schallt ihm kein Echo zurück. Herf kann sich diese Stille kaum erklären und resigniert: „Offenbar hat die Erinnerung an den Holocaust in Europa heute kaum einen Einfluss auf die Iranpolitik.“

Dass Europa und insbesondere Deutschland von einer „Lust am Einknicken“ gegenüber dem militanten Islam überwältigt sind und Israel damit de facto im Stich lassen, wie es Henryk M. Broder konstatierte, dass die freie Welt „wie paralysiert“ auf die Bedrohung durch den fundamentalistischen Islam reagiert und der Westen dabei gar nicht merkt, „wie sehr er sich selbst auflöst“, wie dies der deutsch-türkische Schriftsteller Zafer Senocak feststellte, bleibt unzureichend erklärt, solange nicht auf die kulturellen und politischen Verbindungen zwischen antimodernem Hass im Islam und antimodernem Selbsthass im Westen reflektiert wird, die im Ressentiment gegen Israel und die USA ihr gemeinsames Objekt der ebenso projektiven wie destruktiven Begierde finden. Broder befand einmal: „Weil die deutsche Psychose auf zwei Füßen steht, dem Antisemitismus und dem Antiamerikanismus, sind mal die Juden und mal die Amis dran.“ Diese Psychose ist aber keineswegs auf die autochthonen Deutschen beschränkt; sie ist Ausdruck des antiwestlichem Ressentiments überhaupt und findet sich quer durch die politischen Lager und die (multi-) kulturellen Milieus.

Wenn Feridun Zaimoglu in der taz die allmachtsfantasierende Formel „Bush regiert die Welt“ ausgibt, dann formuliert er den wahnhaften Grundkonsens zwischen der fortwesenden Vormoderne des Orients und der sich etablierenden Postmoderne des Okzidents. Zaimoglus in gleicher Rede vorgetragene Apologie des „Propheten Mohammed“, der ihm als die am meisten zu verehrende „historische Persönlichkeit“ gilt, wird dabei von seinem Publikum als ethnisch-kulturell legitimierte Wahrheit eines Deutschtürken weit eher goutiert als die aufgeklärte und islamkritische Haltung seines Kollegen und Antipoden Zafer Senocak. Und dass dem so ist, wirft ein Schlaglicht auf die Gegenaufklärung als eine dem Westen ganz und gar nicht äußerliche Erscheinung.

„Besondere Verantwortung“ ohne Konsequenzen

Im postnazistischen Deutschland ist das fortwährende Bemühen der politischen Eliten erkennbar, die antiwestliche und zuvörderst antiisraelische Ranküne herunterzuspielen und keinesfalls als Fortwirken jener Ideologie erscheinen zu lassen, die im Nationalsozialismus ihre vernichtende Praxis entfaltete. Offiziell hat sich darum ein cordon sanitaire der vergangenheitspolitisch korrekten Rede entwickelt, die in ihrem antifaschistischen und proisraelischen Duktus an Formelhaftigkeit und Symbolismus kaum zu überbieten ist. Der Tel Aviver Soziologe Natan Sznaider merkte schon 2005 aus Anlass der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der deutsch-israelischen Beziehungen an, dass einst die „moralische Rehabilitierung Deutschlands durch den Weg über Israel“ erfolgte: „Die Bundesrepublik brauchte Israels Anerkennung dringend. Das hatte nichts mit kollektiver Schuld zu tun, denn die besiegte Volksgemeinschaft war sich von Anfang an keiner Schuld bewusst. Die Niederlage war die eigentliche Schuld. Dadurch wurde die Anerkennung Deutschlands durch Israel zum Pfeiler der westdeutschen Diplomatie der nächsten Jahrzehnte. Wie konnte man den Rest Europas davon überzeugen, dass es keine Kontinuitäten zwischen Hitler- und Adenauerdeutschland gab? Der schnellste Weg nach Europa und in die NATO führte über Israel.“ Eben dies bestätigte einmal Joschka Fischer, als er die Bereitschaft Ben Gurions zu Verhandlungen mit Adenauer über Entschädigungszahlungen als „eine große Chance für unser Land“ bezeichnete. Und diese Chance wurde genutzt. Das aber ist Vergangenheit; Deutschland braucht Israel inzwischen nicht mehr. Gleichwohl die Rituale noch aufrechterhalten werden, so konstatiert Sznaider, hat der Abkopplungsprozess längst begonnen.

Natürlich wurde zum 60. Jahrestag der Staatsgründung Israels noch einmal das eingeübte Wohlverhalten präsentiert: Es war von Freundschaft und „besonderer“ Verantwortung Deutschlands für Israel die Rede, vom gelungenen christlich-jüdischen Dialog (gern auch als Modell für den christlich-islamischen Dialog empfohlen), vom intakten diplomatischen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausch. Es war die übliche Demonstration der hohlen Phrasen, wie schon 2005, als der damalige deutsche Außenminister die seitdem gültige Blaupause für staatstragende Bekundungen zur deutschen Israel-Politik lieferte: „Deutschland unterstützt vorbehaltlos das Existenzrecht Israels. Wir bekennen uns zu dem Recht der Bürgerinnen und Bürger Israels, in sicheren Grenzen und in Frieden mit ihren Nachbarn und frei von Angst vor Terror und Gewalt zu leben. Dieses Bekenntnis zu Israel gilt uneingeschränkt und bedingungslos, es ist mit niemandem verhandelbar und bildet die Grundlage für das besondere Verhältnis unserer beiden Länder. Es ist ein Grundpfeiler deutscher Außenpolitik, und das wird so bleiben.“

Auch Angela Merkel hatte in ihrer Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, nur das Gleiche, wenn auch anders formuliert, zu verkünden: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben. Deutschland setzt gemeinsam mit seinen Partnern auf eine diplomatische Lösung.“

Der Unterschied zwischen Fischer und Merkel ist jener: Der grüne Außenminister hielt es – so kann man an Natan Sznaider anschließen – zum Ende der Neuformierung der deutschen Außenpolitik unter Rot-Grün noch für geboten, eine besondere und gleichzeitig gefahr- und folgenlose Nähe zu Israel zu bekunden. Die heutige Bundeskanzlerin aber hatte dies schon nicht mehr nötig; die deutsche Außenpolitik hat sich als in jeder Hinsicht souverän erwiesen – souverän auch gegenüber geschichtspolitischen Rücksichtnahmen. Stellt man die daher anachronistisch anmutenden Bekundungen Merkels gegen Volkes Stimme, so wird ein drastischer Widerspruch offenbar. Im Auftrag des ZDF fand die Forschungsgruppe Wahlen zum 60. Geburtstag Israels heraus, dass mehr als die Hälfte der Deutschen keinerlei Verantwortung der Bundesrepublik gegenüber Israel mehr sehen; bei den 30- bis 39-Jährigen sind es sogar zwei Drittel. Nach der Rede der Bundeskanzlerin vor der Knesset wurde öffentlich darüber spekuliert, wie Deutschland sich im Falle eines Angriffs auf Israel verhalten würde. Die Kanzlerin selbst hatte angekündigt, dass es „in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte geben“ dürfe, um sofort klarzustellen, was daraus zu folgern sei: „Deutschland setzt gemeinsam mit seinen Partnern auf eine diplomatische Lösung.“ Ein Drittel der Deutschen, so besagte Umfrage, lehnt im Kriegsfall jede politische Unterstützung für Israel ab; nur ein gutes Drittel würde finanzieller Hilfe zustimmen, und gerade einmal 13 Prozent würden dem jüdischen Staat mit Waffen oder sogar eigenen Soldaten zur Seite stehen wollen.

Appeasement statt ultima ratio

Vielleicht war der 60. Geburtstag Israels daher ja auch der letzte Anlass, sich staatsoffiziell in Deutschland zu Israel bekennen zu müssen. Denn damit lassen sich die deutschen Wähler kaum begeistern. Zwar klingen manche Politiker an Tagen inszenierter Treueschwüre noch wie die Speerspitze der Pro-Israel-Lobby in Deutschland. Doch schon heute sind die Erfolge einer solchen Lobby ausschließlich ex negativo zu bestimmen: Während Teheran sein Atomprogramm zur Vorbereitung einer neuerlichen Judenvernichtung vorantreibt und die Mullahs keinerlei Hehl aus ihrem Ansinnen einer World without Zionism machen, betreibt die Bundesregierung pazifistische Symbolpolitik: Da ist beispielsweise Steinmeiers zur Stillstellung Israels geäußerte Behauptung, man müsse „alles tun, um eine iranische atomare Bewaffnung zu verhindern“ – eine Behauptung, die sich sogleich als Floskel erweist. Denn „alles“ bedeutet bei Steinmeier eben „alles“ außer dem Notwendigen: den Mullahs nämlich deutlich zu machen, dass ihr ersehnter best case, die Atomisierung Tel Avivs durch iranische Bomben, im politischen worst case durch einen präventiven Militärschlag gegen das iranische Regime verhindert werden muss. Tatsächlich jedoch beruhigt der deutsche Außenminister Teheran, und wenigstens die Mullahs können ihn beim Wort nehmen, wenn er versichert, „alles, aber auch wirklich alles zu tun, um diesen Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen“, weil jedes militärische Eingreifen „unabsehbare Folgen“ habe. Damit wird auf jenen „Aggressor“ angespielt, dem Deutschland zuvörderst in den Arm zu fallen trachtet. Und das ist ganz sicher nicht der Iran.

Nicht einmal eine kleine Minderheit in der Bundesregierung oder dem Parlament ist zu erkennen, die eine entschiedenere Position gegenüber Teheran vertritt und als ultima ratio die militärische Option nicht gänzlich auszuschließen bereit ist. Auch das christdemokratische Lager ist praktisch auf Steinmeiers Linie. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag etwa, Ruprecht Polenz, warnte die Vereinigten Staaten eindringlich vor militärischen Aktionen gegen den Iran: „Das würde zu einer nicht mehr kontrollierbaren Kettenreaktion führen und die Gewalt dramatisch eskalieren lassen.“ Selbst „chirurgische Operationen“ des US-Militärs gegen iranische Ziele lehnt Polenz kategorisch ab; diese könnten die Sicherheit und Stabilität in der ganzen Welt gefährden, vermutet er. Wer so redet, nimmt de facto die Vernichtung Israels in Kauf, der fürchtet sich eher vor Aktionen des amerikanischen denn vor solchen des iranischen Militärs. Offen zu bekunden, dass ein Ende des jüdischen Staates den Nahen Osten tatsächlich in ganz perfider Art „befrieden“ würde, verbietet die politische Raison im Bundestag oder aber – was wahrscheinlicher ist – die Angst, den eigenen pazifistischen Gedanken bis zur letzten Konsequenz zu Ende zu denken. Diese Art der Trägheit der Vernunft hat wenig mit Faulheit oder mangelndem Denkvermögen, aber viel mit der psychologischen Disposition der postnazistischen Deutschen zu tun, denen die Israels Existenz – wenn auch uneingestanden – ein Dorn im Auge, ja, ein steter Verweis auf das Ausmaß des antisemitischen deutschen Wahns ist. Eben darum wird den eigenen Wiedergängern nicht in den Arm gefallen.

In diesem Licht betrachtet, markiert der 60. Geburtstag des jüdischen Staates den jüngsten, aber sicher nicht den letzten Höhe- respektive Tiefpunkt des deutsch-israelischen Verhältnisses. Die offiziellen und offiziösen Bekundungen der Bundesrepublik stellen zwar die bereits gewohnte Mischung aus Täuschung und Selbsttäuschung dar – man suggeriert Israel eine unverbrüchliche freundschaftliche Verbundenheit, legitimiert damit sogleich allerlei Ermahnungen und wohlfeile „Kritik“ und attestiert sich selbst, es bei alledem ausgesprochen gut zu meinen. Dort aber, wo die diplomatischen Zurückhaltungen weitestgehend erodieren konnten – also in Talkshows und Dokumentationen, im Radio und Fernsehen, in Zeitungskolumnen und offenen Briefen voller giftiger „Glückwünsche und Sorgen“ –, wird dem Jubilar recht übel mitgespielt, wird ein ganzes Konvolut an Vorwürfen, Unterstellungen und Untergangsprognosen geschnürt, getreu dem Motto: Einen Glückwunsch für Israel? Nein: Das Land sieht doch elend aus, macht es wohl nicht mehr lang und ist daran auch noch selbst schuld.

Verwendete Literatur:
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Igal Avidan: Israel. Ein Staat sucht sich selbst, Diederichs-Verlag, 2008
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Henryk M. Broder: Hurra, wir kapitulieren!, wjs Verlag, Berlin 2006
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Wiglaf Droste: Nutzt gar nichts, es ist Liebe. Gedichte, Reclam Leipzig, 2005
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Günter Grass: Essays und Reden, Band I bis III, Steidl Verlag, Göttingen 2003
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Thomas Mann: Essays I 1893-1914, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2002

Verwendete Artikel und Essays:
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Joschka Fischer: Eine große Chance für unser Land. 40 erfolgreiche Jahre deutsch-israelische Beziehungen, in: Das Parlament, 11. April 2005
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Angela Merkel: Die Sicherheit Israels ist niemals verhandelbar. Rede der Bundeskanzlerin vor dem israelischen Parlament, in: Handelsblatt, 18. März 2008
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Jeffrey Herf: Wo sind die Antifaschisten?, in: Welt am Sonntag, 2. Dezember 2007
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Jeffrey Herf et al.: Die Amerikaner wissen, was Krieg bedeutet, in: Die Welt, 29. Dezember 2007
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Hans Monath: Für den Frieden alles, wirklich alles tun, in: Der Tagesspiegel, 8. November 2007
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Ruprecht Polenz: Angela Merkel drückt sich nicht, in: Der Tagesspiegel, 28. Oktober 2007
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Zafer Senocak: Der Terror kommt aus dem Herzen des Islam, in: Die Welt, 29. Dezember 2007
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Natan Sznaider: 40 Jahre deutsch-israelische Beziehungen und ihre Instrumentalisierung: Die wirkliche Befreiung, in: Die Welt, 7. Mai 2005
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Feridun Zaimoglu: Ich will mich bessern, ehrlich, in: taz, 31. Dezember 2007

Zu den Bildern (von oben nach unten, © Lizas Welt): (1) Eigenkreation, bestehend aus einem T-Shirt, einer Sonnenbrille und einer israelischen Fahne. (2) Aufgenommen während der Yom HaAtzmaut-Feiern in Jerusalem am 7. Mai 2008. (3) Einer der Azrieli-Towers in Tel Aviv. (4) Plakat zum 60. Geburtstag Israels, aufgenommen in Jerusalem.