15.7.08

Banal total

Vergleiche mit dem Holocaust haben Konjunktur, seit die Deutschen ihn ins Werk gesetzt haben: Alte und neue Nazis bezeichnen mal die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte während des Zweiten Weltkriegs und mal die Aussiedlung der Deutschen aus Osteuropa als „Holocaust am deutschen Volk“, Abtreibungsgegner schwadronieren von einem „Baby-Holocaust“ (oder „Babycaust“), Veganer nennen den Fleischkonsum einen „Tier-Holocaust“, Hundebesitzer heften ihren Vierbeinern gelbe Sterne an, um damit gegen den Leinenzwang zu protestieren, und Joschka Fischer entdeckte im Vorfeld des Krieges gegen Jugoslawien 1999 im Kosovo ein „zweites Auschwitz“. Der Evergreen unter den Banalisierungen der Shoa ist jedoch der vorgebliche „Holocaust an den Palästinensern“, geplant und ausgeführt, so heißt es, ausgerechnet von jenen, die (oder deren Vorfahren) selbst Opfer von Verfolgung und Vernichtung gewesen seien. Waren es in früheren Jahren noch vor allem linksradikale Gruppierungen wie die RAF oder die Revolutionären Zellen, die derlei behaupteten, so fanden vor vier Jahren bereits 51,2 Prozent aller Deutschen: „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben.“ Gar 68,3 Prozent waren der Meinung, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. Gleiches verbreiten bekanntlich auch palästinensische, iranische und arabische Propagandastellen und ihre Adepten.

Einen Holocaust-Vergleich wollen der britische Entwicklungsminister Shahid Malik und der Leiter des Essener Zentrums für Türkeistudien (ZfT), Faruk Sen (Foto), nach eigenem Bekunden zwar nicht vorgenommen haben, als sie kürzlich äußerten, die Muslime seien „die Juden von Europa“ (Malik) und die Türken „die neuen Juden“ (Sen). Dass die Art und Form der Ausgrenzung sich ähnlich sind, glaubten allerdings beide. Unterstützung erhielt der SPD-Politiker Sen dabei vom Sprecher des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Sergey Lagodinsky. Der schrieb in der taz, die Singularität des Holocausts stehe „außer Frage“, doch die „Diskriminierungsgeschichte der europäischen Juden“ sei „mehr als eine Geschichte der Vernichtung“. Das scheine aber „durch unsere intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust verschüttet gegangen zu sein“: „Der Vorwurf des Antisemitismus wird zum Vorwurf einer Vernichtungsabsicht. Alles, was die Hürde dieser Monstrosität nicht zu nehmen vermag, wird ausgeblendet.“ Wer Details über den Umgang mit Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert lese, entdecke jedoch „unangenehme Parallelen zu heutigen Debatten“, meint der 32-jährige Jurist und Publizist: „Vom Vorwurf der ‚doppelten Loyalitäten’ und Diskussionen um die Grausamkeit und das Verbot ritueller Schächtungen bis hin zum deutschen Strafrecht, das es untersagt, sich durch Gruppenbeleidigungen individuell betroffen zu fühlen.“ Angesichts dessen sei die Frage „nach ähnlichen, wenn auch nicht identischen Wahrnehmungsmustern von Juden damals und Türken heute nicht völlig aus der Luft gegriffen.“

Rassismus und Antisemitismus

Lagodinsky irrt – wie auch Malik und Sen –, und das aus mehreren Gründen. Da ist zunächst einmal die Abspaltung der Diskriminierung der europäischen Juden von ihrer Vernichtung – eine Trennung, die schlicht und ergreifend unsinnig und unzulässig ist. Denn durch sie wird der Antisemitismus nicht mehr als umfassende Weltanschauung begriffen, die in der Konsequenz immer und per se auf die schiere Existenz von Juden zielt, sondern lediglich als eine Form des Rassismus unter vielen verstanden. Warum das falsch ist, zeigen bereits grundlegende Fragen, wie sie der Politikwissenschaftler Clemens Heni, bezogen auf die Äußerungen Sens und Lagodinskys, in einem Kommentar gestellt hat: „Wo sind die Vernichtungsdrohungen gegen Türken? Wo sind die ‚Protokolle der Weisen von Istanbul’? Wo werden Türken des Ritualmordes beschuldigt? Wo wird die weltweite Verschwörung der Groß- oder Jungtürken [behauptet]? [...] Wo wurde jemals den Türken oder den Muslimen die Entwicklung des Kapitalismus zur Last gelegt? Oder wo wurden Türken der bolschewistisch-kommunistischen Revolte [geziehen]? Wo wird Türken (oder Muslimen insgesamt) unterstellt, sie würden mit ihrer ‚Künstlichkeit’ und Modernität die organische Verwobenheit der Menschen zerstören?“

Henis Fragen verweisen auf Unterschiede zwischen Judenhass und Ausländerfeindlichkeit, die nicht nur gradueller Natur sind. Zwar verweigert sowohl der Rassist als auch der Antisemit ganz bestimmten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an der eigenen Gesellschaft; zwar behauptet der eine wie der andere die Verschiedenwertigkeit von Menschen(gruppen) und die Höherwertigkeit des eigenen nationalen Kollektivs; zwar befürworten beide zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen auch unmittelbare Gewalt und werden dabei gegebenenfalls selbst handgreiflich – auf eigene Faust wie auch im Mob. Doch während der Rassist meistenteils mit der staatlich organisierten Abschiebung, Versklavung und Kolonisierung seiner Hassobjekte – die er je nachdem für triebhaft, faul, schmutzig, hinterhältig, primitiv oder kriminell hält – ruhig zu stellen ist, geht es dem Antisemiten um nicht weniger als die Auslöschung seiner Feinde, der Juden.

Sie nämlich hält er für die absolute Gegenrasse, für das Anti-Volk, das die „Völker“ zersetzt; sie verdächtigt er, im Verborgenen die Weltherrschaft zu planen; sie macht er für alles Übel dieser Welt verantwortlich: für Globalisierung und Egoismus, für Vereinzelung und die Zerstörung traditioneller sozialer Beziehungen, für die Macht der Banken und die Dominanz des Geldes, für Kosmopolitismus und Krieg. Kurz: Der Rassist konstruiert „Untermenschen“, die er dauerhaft aus den Augen geschafft haben und beherrschen will; der Antisemit sieht in den Juden so unsichtbare wie allgegenwärtige „Übermenschen“, deren von ihm selbst erfundene Allmacht letztlich nur durch eine möglichst vollständige Vernichtung zu brechen ist. Dass das eine mit dem anderen überaus häufig zusammengeht und in Personalunion auftritt, ist dabei gerade kein Widerspruch.

Doch Shahid Malik, Faruk Sen und Sergey Lagodinsky liegen mit ihrer Parallelisierung noch aus anderen Gründen daneben. „Denn von einer systematischen Diskriminierung oder gar Verfolgung der etwa 25 Millionen Muslime in Europa, wie sie den Juden des 19. und 20. Jahrhunderts widerfuhr, kann heute keine Rede sein“, befand Richard Herzinger in der Jüdischen Allgemeinen zu Recht. „Dass Muslime als einzelne und als Gruppe tatsächlich vielfach herabwürdigenden Vorurteilen oder rassistischen Anwürfen und Angriffen ausgesetzt sind, ist zwar wahr und schlimm. Doch es gibt in den europäischen Demokratien keine offizielle Politik der Ausgrenzung und Diffamierung gegenüber der islamischen Religion und Kultur – von staatlich geförderten oder geduldeten Pogromen gar nicht zu reden. Im Gegenteil: Nachdem die muslimische Präsenz in Europa jahrzehntelang verdrängt oder ignoriert wurde, erleben wir heute einen intensiven Diskurs über ihren Platz in der Mitte der europäischen Gesellschaft.“ Noch weniger als Muslime im Allgemeinen seien türkischstämmige Europäer im Besonderen von einer organisierten Verfolgung bedroht, konstatierte Herzinger, „nicht zuletzt dank der Existenz eines türkischen Staates, dessen Bedeutung für Europa in den kommenden Jahrzehnten weiter zunehmen wird“.

Holocaust-Vergleich durch die Hintertür

Maliks und Sens Rede von den Muslimen und Türken als den „Juden von heute“ ist also falsch, und zwar – qualitativ wie quantitativ – auch dann, wenn sich ihr Vergleich „nur“ auf die Diskriminierung der Juden jenseits der Shoa bezogen haben sollte. Aber ihre Beteuerung, keine Analogie zum Holocaust vorgenommen haben zu wollen, hat ohnehin keine Substanz: Zu offensichtlich war ihr Spiel mit den Assoziationen, zu durchschaubar ihre Absicht, nicht nur zu vergleichen, sondern gleichzusetzen – und damit zu suggerieren, den Muslimen respektive Türken drohe heute letztlich das gleiche Schicksal wie den Juden damals, nämlich die Vernichtung. Der Holocaust-Vergleich hat also quasi die Hintertür genommen. Gleichwohl wird auch auf diese Weise – „wie bewusst auch immer – das Unvergleichliche nicht nur der Judenfeindschaft, sondern namentlich der Shoa geleugnet“, resümierte Clemens Heni treffend, und er benannte, den Historiker Dan Diner zitierend, die unweigerlichen Konsequenzen: „Wie unter der Hand wird der so seiner Geschichtlichkeit entblößte Holocaust – das zum bloßen Exempel verallgemeinerte Ereignis Auschwitz – zu einem Genozid unter anderen Genoziden mutieren.“

Infolge einer solchen „anthropologisierenden Wahrnehmung“ (Diner) gerät zudem aus dem Blickfeld, dass der Antisemitismus mitnichten tot ist; er hat auch nicht an Bedeutung verloren oder der „Islamophobie“ Platz gemacht. Vielmehr hat er eine Art Modernisierung durchlaufen und tritt heute bevorzugt als „Antizionismus“ und „Israelkritik“ auf; er hält sich dadurch für ehrbar und kann doch seine Verwandtschaft mit dem Judenhass alter Prägung nicht verbergen. Vertreten wird dieser (gar nicht so) neue Antisemitismus nicht zuletzt von den Nachfahren derjenigen, die einst die Shoa ersannen und vollstreckten, derweil sich diejenigen Palästinenser, Araber, Muslime, die sich als Opfer eines angeblich von Israel betriebenen „Holocausts“ wähnen, wünschen, dem jüdischen Staat und seinen Bürgern möge das Gleiche widerfahren wie weiland den europäischen Juden, nachdem sie keine Staatsbürger mehr sein durften.

Und ihre Chancen stehen nicht einmal schlecht: Das iranische Regime arbeitet tatkräftig – und kaum ernsthaft gehindert, schon gar nicht von der deutschen Regierung – daran, die Träume der Judenfeinde aller Couleur Wirklichkeit werden zu lassen und das zu vollenden, was die Deutschen vor 63 Jahren abzubrechen gezwungen wurden. Doch just wer sich dadurch an den Holocaust erinnert fühlt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dessen Verharmlosung zu betreiben; noch nicht einmal antisemitisch sollen die Pläne der Mullahs sein, sagen nicht wenige von denen, die sonst bereits das morgendliche Klingeln des Weckers für lupenreinen Faschismus halten.

Dass Faruk Sen entlassen werden soll, ist gewiss nicht zu bedauern. Aber die Begründung dafür geht an der Sache vorbei: Für NRW-Integrationsminister Armin Laschet ist Sen nämlich „weder ein Antisemit noch ein Relativierer des Holocaust“, sondern bloß einer, der „die deutsche Integrationspolitik“ verkenne. Sens Aussage treffe „insbesondere die deutsche Gesellschaft“, fand Laschet in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung; selbst mit gutem Willen dürfe man „so die Deutschen und die deutsche Gesellschaft nicht mit der Zeit vor 1945 vergleichen“. Der ZfT-Direktor hat sich also nicht der Banalisierung der Shoa schuldig gemacht, sondern an der deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ vergangen. Und das wiegt hierzulande allemal schwerer.