26.12.08

Semantiker des Semitismus



Kürzlich hat Norman Paech, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, dem FDP-Generalsekretär Dirk Niebel eine Abmahnung geschickt: Niebel sollte einen Auszug aus einem von Benjamin Weinthal verfassten Beitrag in der Jerusalem Post, in dem es hieß, Paech vergleiche Israel mit dem nationalsozialistischen Deutschland, von seiner Website nehmen. Seine zunächst tatsächlich abgegebene Unterlassungserklärung hat der Freidemokrat inzwischen widerrufen. Und das aus gutem Grund, denn für Weinthals Einschätzung finden sich wahrlich genügend Belege: Paech warf Israel unter anderem das Führen eines „unzulässigen Vernichtungskriegs“ gegen den Libanon vor und fühlte sich beim Vorgehen der israelischen Armee an die „unseligen Vergeltungsbefehle der deutschen Wehrmacht erinnert“. Diese Vergleiche schien der „Völkerrechtler“ jedoch offenkundig vergessen zu haben, als er juristisch gegen Niebel zu Felde zog.

Norman Paech (Foto) hat allerdings durchaus keine Schwierigkeiten mit seinem Gedächtnis, sondern vielmehr mit Leuten, die ihm auf die Schliche kommen und seine „Israelkritik“ das nennen, was sie ist: ordinärer Antisemitismus. Darauf reagiert der Terrorversteher dann bevorzugt mit Gegendarstellungen oder Klagen – wobei jeder dieser Versuche, die gegen ihn gerichteten Vorwürfe zurückzuweisen, unweigerlich zu deren eindrucksvoller Bestätigung führt. Und wenn Paech mal nicht gegendarstellt oder klagt, lässt er sich von ihm gewogenen Medien interviewen – mit dem gleichen Ergebnis. Henryk M. Broder über einen Postkommunisten, der nicht nur mit der Wirklichkeit, sondern auch mit der Semantik nachhaltig auf Kriegsfuß steht.


Paech und die Semantik des Semitismus

VON HENRYK M. BRODER


Ob Norman Paech lügt oder nur die Unwahrheit sagt, ist ein feiner semantischer Unterschied, mit dem ich mich nicht aufhalten möchte. In jedem Fall hat er ein Problem mit Fakten. In einem Interview mit der Monatszeitschrift analyse & kritik (ak), die aus dem Arbeiterkampf des Kommunistischen Bundes hervorgegangen ist, sagte er vor kurzem Folgendes:
„Der Antisemitismusvorwurf ist als politisches Kampfinstrument entdeckt worden: Zum einen, um Antisemitismus aus seinem eigenen ideologischen Milieu zu eskamotieren (verschwinden zu lassen; Anm. ak) und als ungefährlich zu verharmlosen. So will Henryk M. Broder den Antisemitismus den Archäologen überlassen und nur noch den ‚modernen Antisemitismus’, den er mit jeglicher Israel-Kritik identifiziert, bekämpfen.“
Wie viele seiner Freunde und Genossen arbeitet sich auch Paech nicht am Antisemitismus, sondern am Antisemitismusvorwurf ab, der für ihn ein politisches Kampfinstrument ist. Soll heißen: Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist nicht, ein Antisemit zu sein, sondern mit dem Antisemitismusvorwurf konfrontiert zu werden. Deswegen konzentriert sich der aktuelle Kampf gegen den Antisemitismus darauf, erstens die Machtergreifung der Nazis („Nie wieder ’33“) zu verhindern, zweitens die Israelis zu ermahnen, die Politik der Nazis nicht zu wiederholen, und drittens, für die „Opfer der Opfer“ Verantwortung zu übernehmen. Ob das schon Antisemitismus ist oder nur ein Versuch, die deutsche Geschichte auf dem Rücken der Israelis zu entsorgen, ist eine Frage der Definition.

Auf dem Wege zu einer Endlösung der Nahostfrage im Sinne der fortschrittlichen Linken (über eine Zusammenarbeit mit der Hamas und der Hizbollah bzw. über die Forderung nach einem binationalen Staat) muss also der Antisemitismusvorwurf abgewehrt werden, damit alles, was den Israelis in die Schuhe geschoben wird, als legitime „Israelkritik“ deklariert werden kann. Das ist auch die rhetorische Figur, deren Paech sich gerne bedient. Er weiß, dass ich den „modernen Antisemitismus“, soll heißen: Antizionismus, niemals „mit jeglicher Kritik identifiziert“ habe. Auch in der Rede vor dem Innenausschuss des Bundestages, auf die sich Paech beruft, habe ich genau zwischen Kritik, die sich auf das Verhalten bezieht, und Ressentiment, das auf die Existenz zielt, unterschieden.

Dass Paech mir das Wort im Munde umdreht, hat freilich einen guten Grund: Die einzigen, die nach dem Krieg behauptet hatten, alle Deutschen seien Nazis gewesen, waren nicht die Widerstandskämpfer, nicht die Überlebenden der Lager und nicht die Alliierten; es waren die Nazis selbst. Sie hatten ein Interesse daran, Deutschland post festum total zu nazifizieren, denn: Je mehr Deutsche Nazis gewesen waren, umso kleiner war der Anteil der Schuld, der auf den einzelnen Nazi entfiel. Wenn Paech nun behauptet, ich würde „jegliche Kritik“ an Israel als „Antisemitismus“ identifizieren, spielt er die gleiche Karte aus: Er flüchtet unter das Dach des Kollektivs. Wenn „jegliche Kritik“ an Israel als Antisemitismus diffamiert wird, dann ist der Israelkritiker das Objekt der Aggression und nicht Israel. Und je mehr „israelkritische“ Menschen unter diesen Verdacht geraten, umso besser steht der einzelne dar.

Wenn Paech nun sagt: „Wir sind immer gegen Antisemitismus eingetreten“, so ist das eine Plattitüde, für die er den Beweis schuldig bleibt, es sei denn, er meint seine heroische Mitgliedschaft im Auschwitz-Komitee. Indem Paech jeglichen Antisemitismus mit dem Nationalsozialismus identifiziert, schließt er alle weiteren Konnotationen aus. Auf die Frage nach dem Antisemitismus in der DDR antwortet er:
„Ich habe die staatsoffizielle Israel-Kritik der DDR immer als Solidarität mit den leidenden Palästinensern verstanden, in Bezug auf das, was auch von Uno-Organisationen berechtigterweise kritisiert wurde. [...] Das sind objektive Tatbestände. Dass diese von der DDR angeprangert wurden, hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Allerdings kann und will ich nicht darüber urteilen, ob es in der Gesellschaft der DDR antisemitische Tendenzen gegeben hat – wie es sie in der Bundesrepublik gab und gibt.“
So blöd kann nicht einmal ein Postkommunist sein. Dass die Solidarität der DDR mit den leidenden Palästinensern primär darin bestand, dass sie palästinensische Terroristen ausbildete, ist für Paech nicht relevant, über „antisemitische Tendenzen“ in der DDR mag er sich kein Urteil erlauben, über das Essen in den HO-Gaststätten an den Transitstrecken vermutlich auch nicht. Vollends schräg aber wird es, wenn Paech sagt: „Wir haben das Existenzrecht Israels zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. Wir haben die Staatsgründung 1948 und die Integration Israels in die Uno anerkannt. Die Grenzen von 1967 gelten für uns als unantastbar.“

Wen immer Paech mit „wir“ meint: Die LINKE kann es nicht sein, denn innerhalb der LINKEN tobt sehr wohl eine heftige Debatte über das Existenzrecht Israels an und für sich. Die ist zwar für die Existenz Israels so entscheidend wie die Haltung der Tele-Tubbies zur Unabhängigkeit des Kosovo; die Auseinandersetzung um die neue Judenfrage zeugt allerdings von der Zähigkeit des antisemitischen Urschleims, der das Ende der DDR und ihrer „staatsoffiziellen Israel-Kritik“ überdauert hat. Die Grenzen von 1967 gelten Paech als „unantastbar“, aber nur so lange, wie sie nicht von der Hamas angetastet werden, mit der Paech schon deswegen reden möchte, weil sie „durch demokratische Wahlen legitimiert“ sei. Das ist die NPD in Sachsen auch.

Paech müsste wissen, dass man nicht „Juda verrecke!“ brüllen muss, um seinen Vorbehalten gegenüber Juden Ausdruck zu geben. Es geht auch subtiler. Der „israelkritische“ Flügel der LINKEN muss das Existenzrecht Israels nicht infrage stellen, wenn einige Abgeordnete der LINKEN bei Hizbollah-Demos mitlaufen oder Israel einen „Apartheidstaat“ nennen. Das reicht, um die Botschaft zu kommunizieren.

Es gibt keinen Satz, den Paech nicht auf der Stelle relativieren oder in sein Gegenteil verkehren würde. Er sagt: „Wir lehnen die Raketenangriffe der Hamas selbstverständlich ab“, was so selbstverständlich nicht ist, denn: „Wir sehen auch, dass sie kein Äquivalent zur hermetischen Abriegelung des Gaza-Streifens und den Militäroffensiven Israels darstellen, die größtenteils zu Lasten der Zivilbevölkerung gehen.“ Soll heißen: Die Raketenangriffe sind schlimm, noch schlimmer ist aber die Abriegelung des Gaza-Streifens. Dass die Raketenangriffe nicht die Antwort auf die Abriegelung des Gaza-Streifens sind, sondern die Antwort auf eine angekündigte Entriegelung und damit mögliche Verbesserung der Lage sind, an der Hamas kein Interesse hat, das entzieht sich Paechs Kenntnis ebenso wie die Frage, ob es in der DDR „antisemitische Tendenzen“ gegeben hat. Erst wenn Israel den Hamas-Feuerwerkern die genauen Zielkoordinaten übermitteln würde, wären vermutlich die völkerrechtlichen Voraussetzungen für eine Entriegelung des Gaza-Streifens im Sinne von Paech erfüllt.

„Verharmlosung gehört zu seinem Repertoire“ schrieb der Stern in einer Geschichte über Paech et al., in der auch davon die Rede war, dass der Völkerrechtler fliegende Bomben, „die seit der Räumung des Gazastreifens auf israelische Städte abgeschossen werden“, als „Neujahrsraketen“ bezeichnet haben soll. Paech reichte das Copyright weiter. Es habe sich „um ein Zitat des früheren palästinensischen Generaldelegierten in Deutschland, Abdallah Frangi“, gehandelt, den er „in Ramallah getroffen hatte“. Paech nannte die von Frangi benutzte „Metapher“ immerhin eine „Geschmacklosigkeit“ und drehte dann den Spieß wieder um: „Man möge sich dann allerdings auch über die palästinensischen Opfer und die zerstörten Wohnhäuser, Anbauflächen und zivilen Einrichtungen in den palästinensischen Gebieten erregen, die das israelische Militär und die israelische Regierung zu verantworten haben.“ Und auf einer Kundgebung in Neukölln stellte Paech fest, Siedler seien „keine Zivilisten“, der Kampf gegen bewaffnete Siedler sei „völkerrechtlich Notwehr“.

Das sieht die Hamas ähnlich, geht allerdings einen Schritt weiter als Paech. Für sie sind alle Israelis Siedler, und ganz Israel ist besetztes Gebiet. Deswegen ist die Hamas nicht antisemitisch, sondern nur antizionistisch. Aber auch das ist nur ein feiner semantischer Unterschied, dessen Auslegung ich Norman Paech gerne überlasse.

21.12.08

Same old song



Am vergangenen Freitag endete offiziell die von Ägypten vermittelte halbjährige „Waffenruhe“ zwischen Israel und der Hamas – eine „Waffenruhe“, während der alleine 234 Kassam-Raketen, fünf Grad-Raketen mit größerer Reichweite und 185 Mörsergranaten auf den jüdischen Staat abgeschossen wurden. Und nun intensivieren die Gotteskrieger ihre mörderischen Aktivitäten erwartungsgemäß erneut. Israel reagiert darauf mit militärischen Gegenmaßnahmen, während UN-Generalsekretär Ban Ki Moon eine Fortsetzung des „Waffenstillstands“ fordert, der nie einer war, und „Friedens“-Aktivisten der Hamas zu Hilfe eilen. Alles wie gehabt also – und deshalb Gelegenheit, auf einen überaus lesenswerten Beitrag hinzuweisen, den J. G. Thayer bereits vor einigen Wochen für Contentions, das Weblog des Commentary Magazine, verfasst hat. Darin beschreibt Thayer das immer gleiche Muster, das den Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen Israel und den Palästinensern seit Jahren zugrunde liegt. Und er hat auch einen Vorschlag, wie es sich womöglich ändern ließe. Lizas Welt hat den Text ins Deutsche übersetzt.


Immer das gleiche Lied

VON J. G. THAYER


Ich bin zwar kein Nahostexperte, aber nach all den Jahren, in denen ich die Entwicklungen in dieser Region verfolgt habe, bin ich zu der Feststellung gelangt, dass es ein sich wiederholendes Muster im Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern gibt:
  1. Irgendeine Institution drängt von außen auf ein Friedensabkommen.
  2. Diese Institution bringt Repräsentanten beider Seiten dazu, Gespräche miteinander zu führen.
  3. Die Gespräche dauern eine Weile; schließlich wird ein Plan entworfen.
  4. Dieser Plan wird mit großem Getöse öffentlich gemacht; er sieht auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden eine Reihe von Schritten vor, die beide Seiten unternehmen sollen.
  5. Bevor es zu ersten – versöhnlichen – Schritten kommt, wird Israel aufgefordert, als „Geste des guten Willens“ einige Konzessionen zu machen. (Hinweis: Dies kann auch schon vor oder gleichzeitig mit den Punkten 3 und 4 geschehen. Die Palästinenser werden übrigens nie zu ähnlichen Gesten aufgerufen.)
  6. Unter großem Druck erklärt Israel sich zur geforderten „Geste“ bereit – gewöhnlich beinhaltet sie die Freilassung von Gefangenen oder die Räumung von Siedlungen.
  7. Israel wird von der Weltgemeinschaft für sein „Engagement für den Frieden“ gelobt.
  8. Man beginnt mit der Umsetzung der Vereinbarungen, wobei Israel immer der Erste zu sein hat, der wirkliche Zugeständnisse macht (zusätzlich zu der vorherigen „Geste des guten Willens“).
  9. Israel macht die erste seiner Konzessionen und wird von der Weltgemeinschaft erneut für sein „Engagement für den Frieden“ gelobt.
  10. Die Palästinenser kommen mit den ersten Ausreden, warum sie die Vereinbarungen, denen sie am Verhandlungstisch zugestimmt haben, nicht einhalten können.
  11. Israel wird dazu gedrängt, einseitig mit seinen Zugeständnissen und Verpflichtungen fortzufahren, begleitet von der Warnung, „das Abkommen nicht zu gefährden“.
  12. Israel macht widerwillig weitere Konzessionen, fordert aber von den Palästinensern, endlichen ihren Teil der Vereinbarungen umzusetzen.
  13. Die Palästinenser setzen ihre Hinhaltetaktik fort, suchen weiter nach Ausflüchten und warnen, „kriminelle Elemente“ könnten „den Friedensprozess zerstören“.
  14. Israel kündigt an, seinen Verpflichtungen nicht mehr nachzukommen, bis die Palästinenser damit beginnen, ihren gerecht zu werden. (Man beachte an dieser Stelle, dass Israel bereits verschiedene Male ein Entgegenkommen gezeigt hat.)
  15. Die Palästinenser klagen Israel an, das Friedensabkommen zu „sabotieren“, und warnen vor „schrecklichen Konsequenzen“.
  16. Eine „kriminelle Gruppe“ von Palästinensern greift Israel an.
  17. Die Palästinenser warnen Israel, jede Vergeltung für den Angriff werde den „zerbrechlichen Frieden zerstören“ und zu einem Ende des Abkommens führen.
  18. Auch der Rest der Weltgemeinschaft bedrängt Israel, „sich zurückzuhalten“ und „die Waffenruhe nicht zu brechen“.
  19. Eine andere „kriminelle Gruppe“ von Palästinensern unternimmt einen weiteren Angriff.
  20. Israel schlägt gegen die Terroristen zurück.
  21. Die Palästinenser geben bekannt, Israel habe „den Frieden zerstört“, und kündigen die Vereinbarung auf.
  22. Eine neue Welle von Terrorangriffen und israelischen Gegenschlägen beginnt.
  23. Gehe zu Schritt 1.
Trotz gelegentlicher Abweichungen: Das ist das Grundprinzip. Es gibt ein altes Sprichwort, nach dem Irrsinn etwas ist, das man immer und immer wieder tut, in der Erwartung, jedes Mal ein anderes Ergebnis zu bekommen. Es ist offensichtlich, dass das beschriebene Muster etwa ein halbes Dutzend Mal nicht funktioniert hat, aber die Welt kommt immer wieder auf es zurück. Warum um alles in der Welt tut sie das?

Die Weltgemeinschaft tut es, weil sie glaubt, damit überhaupt irgendetwas zu tun, und die meisten Politiker begreifen, dass es in ihrem Sinne ist, so wahrgenommen zu werden, als ob sie irgendetwas täten, selbst wenn (manchmal sogar besonders wenn) sie damit nichts erreichen. Die Israelis tun es, weil die Weltgemeinschaft sie beständig unter Druck setzt, es zu tun, und ihnen mit dem Entzug von Hilfe und Unterstützung droht, wenn sie sich nicht fügen. Außerdem hoffen sie stets, dass es dieses Mal doch irgendwie klappen wird. Und die Palästinenser tun es, weil es für sie von Vorteil ist, es zu tun. Denn obwohl der Prozess immer wieder von vorne beginnt, bleiben die Konzessionen, die Israel ihnen gegenüber gemacht hat, fast immer unangetastet. Dafür, dass sie an dieser Endlosschleife teilnehmen, dürfen sie behalten, was Israel im Anfangsstadium des Prozesses aufgegeben hat: Die freigelassenen Gefangenen bleiben frei, das aufgegebene Land bleibt in ihrem Besitz, und auch andere Zugeständnisse werden oft nicht rückgängig gemacht. Letztlich profitieren die Palästinenser von Israels Entgegenkommen, ohne dafür irgendeinen Einschnitt machen zu müssen. Das ist zwar ein sehr langsamer Fortschritt auf ihrem Weg zum Sieg, aber die Richtung stimmt schon mal. Es ist eine Salamitaktik.

Ich bin nur ungern Zyniker, aber wenn man mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt befasst ist, ist es die klügste und sicherste Herangehensweise. Für die nächste Runde dieses großen Spiels schlage ich deshalb eine Änderung vor: Man sollte zur Abwechslung die Palästinenser auffordern, eine „Geste des guten Willens“ zu zeigen. Man sollte von ihnen fordern, die ersten Zugeständnisse zu machen, und darauf die Vereinbarung aufbauen, die Israel mit ihnen treffen soll. Natürlich glaube ich nicht, dass das funktioniert. Aber es wird den ganzen bekannten Prozess erheblich verkürzen. Und wer weiß, vielleicht wird es – wenn ein paar Mal nach diesem neuen Muster vorgegangen wurde und Israel dabei behalten durfte, was die Palästinenser ihm vor dem Abbruch des Prozesses zugestanden hatten – echte Bemühungen geben, zu einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten zu kommen. Zumindest wäre es eine Verbesserung gegenüber dem existierenden, schwer beschädigten Modell.

16.12.08

Es denkt



Ein irakischer Journalist wirft während einer Pressekonferenz in Bagdad mit seinen Schuhen nach George W. Bush (Foto) – und sein deutscher Kollege Carsten Kühntopp macht daraufhin aus seinem Herzen keine Mördergrube:
„Schade, dass er nicht getroffen hat.“
Das dächten jedenfalls „viele Menschen in der arabischen Welt, sehr viele“. Und auch in Kühntopp denkt es, ganz öffentlich-rechtlich. Wie gerne hätte er mit Muntasser al-Zaidi getauscht! Wie gerne hätte er dem gehassten Präsidenten der USA mitgeteilt: „Siehe, du bist noch niedriger als meine Sohlen, die immer im Dreck sind!“ Wie gerne hätte er selbst seine Treter „mit aller Kraft nach Bush“ geworfen und sich dafür von Muhammar al-Gaddafis Tochter einen Orden umhängen lassen! Denn als al-Zaidi sein Schuhwerk von sich schleuderte, „da steckte viel in seinem rechten Arm“:
„Zum Beispiel die Wut darüber, dass die Amerikaner den Irak zwar von einem grausamen Diktator befreiten, aber das Land dann wegen ihrer Ignoranz und Arroganz in Trümmer legten. Dazu die Trauer über die mehreren hunderttausend Iraker, die seit der Invasion getötet oder verletzt wurden. Schließlich der Zorn über das verpfuschte Leben der mehr als vier Millionen Menschen, die auf der Flucht sind. Und außerdem das erniedrigende Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem Westen, gegenüber fremden Mächten, die im eigenen Land, in der gesamten arabischen Welt, beliebig schalten und walten.“
Kennt man ja alles noch aus jener Zeit, als dem Deutschen viel in seinem rechten Arm steckte – bevor die Amerikaner im Verbund mit Briten, Sowjets und Franzosen das „Dritte Reich“ ignorant und arrogant in Trümmer legten, mehrere hunderttausend Arier töteten oder verletzten, Millionen Volksgenossen zur Flucht zwangen und das erniedrigende Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber dem Westen erzeugten, gegenüber fremden Mächten, die im eigenen Land, in der gesamten deutschen Welt, beliebig schalteten und walteten. Und die so Geknechteten rächten sich auf ihre Weise – sie stellten die Marschstiefel notgedrungen in die Ecke und wurden stattdessen „Israelkritiker“:
„Auch manch ein Palästinenser würde gerne mal seine Schuhe nach Bush werfen oder nach Tony Blair oder Angela Merkel – alles Politiker, die das eine sagen, aber das andere tun, die von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung reden, aber die jahrelange Abriegelung von anderthalb Millionen Menschen im Gaza-Streifen für normal halten.“
Ob der deutsche Radiomann im Anschluss an die Pressekonferenz in Bagdad zur Mega-Geburtstagsparty der Hamas nach Gaza fuhr, ist nicht überliefert. Was dort bei den „frei gewählten Vertretern eines unter Besetzung stehenden Volkes“ (Kühntopp) und ihrer Anhängerschar vonstatten ging, hätte ihm jedenfalls gewiss imponiert. Man warf zwar nicht seine Fußbekleidung durch die Gegend und ausnahmsweise auch keine Raketen auf Juden, aber die Stimmung war trotzdem bestens. Sie erreichte ihren Siedepunkt, als ein als Gilad Shalit verkleidetes Hamas-Mitglied auf die Bühne trat und den vor zweieinhalb Jahren entführten israelischen Soldaten zur Freude des Mobs lächerlich machte. Hätte Kühntopp das zu kommentieren gehabt, er hätte wohl wie schon in Bagdad von „Gefühlen“ gesprochen, die sich „aus einer nüchternen Analyse der Dinge in diesem Teil der Welt“ speisten und bloß eine Folge „westlicher Einmischung“ seien.

George W. Bush reagierte übrigens sportlich-gelassen auf den Bewurf: Als der erste Schuh flog, duckte er sich elegant weg, und das zweite Exemplar kam so unpräzise des Wegs, dass der US-Präsident nicht einmal zuckte. Anschließend erklärte er: „Alles, was ich dazu sagen kann, ist, der Mann hat die Schuhgröße 10. Das passiert eben in freien Gesellschaften, wenn jemand Aufmerksamkeit erhaschen will.“

Herzlichen Dank an This louder Voice für wertvolle Hinweise.

11.12.08

Zentrum für Ahnungslose

Eines vorneweg: Natürlich darf man alles mit jedem vergleichen. Man darf den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus vergleichen, Bayern München mit der TSG Hoffenheim und selbstverständlich auch den Antisemitismus mit der Islamophobie. Niemand verbietet das, niemand will es verbieten. Vergleiche können nützlich sein, schließlich sind sie – zumindest theoretisch – dazu da, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zutage zu fördern. In der Praxis laufen Vergleiche allerdings nicht selten vor vornherein auf eine Gleichsetzung hinaus, das heißt, die Unterschiede werden gegenüber den angeblichen oder tatsächlichen Gemeinsamkeiten vernachlässigt oder sogar ganz ausgeblendet. So und nicht anders war es auch bei der Tagung „Feindbild Muslim – Feindbild Jude“, die das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) am vergangenen Montag veranstaltet hat. Bereits die Ankündigung und das Programm der Konferenz ließen diesbezüglich keine Zweifel aufkommen: Über „Judenfeindschaft unter Muslimen“ – die das ZfA mit dieser Formulierung zu einer individuellen Angelegenheit herunterbrach, weil es das Problem offenkundig nicht „islamischer Antisemitismus“ nennen wollte – sei „in den vergangenen Jahren“ viel geredet worden; jetzt müssten die „pauschalen Anfeindungen“ gegen Muslime ein Thema sein, denen „Denkmuster“ zugrunde lägen, wie sie „aus der Geschichte des Antisemitismus bekannt“ seien, was wiederum die Frage aufwerfe, „welche Gemeinsamkeiten Judenfeinde und Islamfeinde teilen“.

Mit seiner Tagung hat sich das ZfA herbe Kritik eingehandelt – vor allem von Matthias Küntzel, Clemens Heni und Gudrun Eussner –, während beispielsweise Frank Jansen im Tagesspiegel, Stephan Speicher in der Süddeutschen Zeitung und Alan Posener auf der Achse des Guten die Konferenz verteidigten und verschiedene Medien, darunter die taz, dem ZfA-Leiter Wolfgang Benz (Foto) die Gelegenheit gaben, Stellung zu nehmen. Die Kritiker der Konferenz betonten dabei, kurz gesagt, die erheblichen weltanschaulichen Unterschiede zwischen dem Antisemitismus und dem Rassismus gegen Muslime. Und sie machten deutlich, dass eine Gleichsetzung den islamisch motivierten Judenhass sowie die Vernichtungsdrohungen gegen Israel völlig unter den Tisch fallen lasse. Die Verteidiger behaupteten demgegenüber, der Hass gegen Juden und der gegen Muslime wiesen etliche Übereinstimmungen auf, die sich mit dem Begriff „Rassismus“ zusammenfassen ließen. „Vorurteilsforscher“ Wolfgang Benz verstrickte sich derweil in Widersprüche: Eine Gleichsetzung von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit finde nicht statt und sei auch nicht beabsichtigt, sagte er der Süddeutschen Zeitung zufolge, nachdem er im soeben erschienen Jahrbuch seines Instituts noch geschrieben hatte: „Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden.“ Zudem wiesen der Gesandte der israelischen Botschaft, Ilan Mor, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlins, Lala Süsskind, und der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann, Benz’ Behauptung zurück, er habe sich vor der Tagung ihre Zustimmung zu seinem Vergleich eingeholt.

Um das Selbstverständliche zu sagen: Kein ernst zu nehmender Mensch bestreitet, dass es Rassismus gegen Muslime gibt. Nur sollte man schon genau hinsehen, was da im einzelnen als solcher gehandelt und mit dem Antisemitismus gleichgesetzt wird. Auf der ZfA-Konferenz vertrat die Politikwissenschaftlerin und Historikerin Angelika Königseder beispielsweise die These, der Protest gegen den Bau von Großmoscheen finde seine Entsprechung in den Feindseligkeiten gegen die Errichtung von Synagogen im 19. Jahrhundert. Kein Zweifel: Ein Protest gegen den Moscheenbau kann rassistische Gründe haben. Es gibt allerdings auch sehr nachvollziehbare Einwände, wie sie etwa Necla Kelek vorbrachte, als sie schrieb, die Großmoscheen seien keine einfachen Gebetshäuser für Gläubige, sondern Ausdruck des Hegemonieanspruchs des Islam, „politische Statements in Beton“ und „Keimzellen einer Gegengesellschaft“. Ein anderes Beispiel entstammt dem Ankündigungsfaltblatt des ZfA für die Konferenz, in dem die Behauptung einer „Islamisierung Europas“ rundweg als „Verschwörungsfantasie“ bezeichnet wird. Auch hier kann der Vorwurf des Rassismus zwar fraglos berechtigt und zutreffend sein – schließlich wird oft genug bereits die Zuwanderung von Muslimen und deren schiere Existenz in Europa als „Beweis“ für eine solche „Islamisierung“ angeführt. Was aber, wenn – wie oft genug geschehen und damit durchaus keine Verschwörungsfantasie – islamische Geistliche und Politiker die Überlegenheit des Islam predigen, zu seiner Expansion aufrufen und damit tatsächlich die Bildung einer Gegengesellschaft mit all ihren Konsequenzen befördern? Was also, wenn sie gar keinen Hehl daraus machen, die Islamisierung voran treiben zu wollen, und zwar mit roher Gewalt?

Hier deutet sich bereits an, wie falsch die Parallelisierung mit dem Antisemitismus ist. Denn zunächst einmal gibt es für die genannten Beispiele kein jüdisches Gegenstück: Weder waren Synagogen je Ausdruck eines Hegemonieanspruchs des Judentums, noch haben je jüdische Geistliche und Politiker die Überlegenheit des Judentums reklamiert und zu seiner Ausdehnung aufgerufen. Anders gesagt: Während die Einwände gegen den Islam sehr wohl rational sein können – insoweit sie nicht rassistisch motiviert sind, sondern sich gegen seine religiös grundierte, faktisch jedoch politische Herrschaftspraxis und -kultur richten –, ist der Hass gegen Juden immer irrational und immer eine gedankliche Eigenleistung der Antisemiten, die mit dem konkreten Verhalten von Juden nichts zu tun hat. Auf eine weitere erhebliche Differenz hat Richard Herzinger im Juli dieses Jahres in der Jüdischen Allgemeinen hingewiesen: „Von einer systematischen Diskriminierung oder gar Verfolgung der etwa 25 Millionen Muslime in Europa, wie sie den Juden des 19. und 20. Jahrhunderts widerfuhr, kann heute keine Rede sein“, befand er. „Dass Muslime als einzelne und als Gruppe tatsächlich vielfach herabwürdigenden Vorurteilen oder rassistischen Anwürfen und Angriffen ausgesetzt sind, ist zwar wahr und schlimm. Doch es gibt in den europäischen Demokratien keine offizielle Politik der Ausgrenzung und Diffamierung gegenüber der islamischen Religion und Kultur – von staatlich geförderten oder geduldeten Pogromen gar nicht zu reden. Im Gegenteil: Nachdem die muslimische Präsenz in Europa jahrzehntelang verdrängt oder ignoriert wurde, erleben wir heute einen intensiven Diskurs über ihren Platz in der Mitte der europäischen Gesellschaft.“

Darüber hinaus gibt es noch weitere, im Wortsinne wesentliche Unterschiede zwischen dem Rassismus – auch dem gegen Muslime – und dem Antisemitismus. Zwar verweigert sowohl der Rassist als auch der Antisemit von ihm definierten Menschen eine gleichberechtigte Teilhabe an der eigenen Gesellschaft; zwar behauptet der eine wie der andere die Verschiedenwertigkeit von Menschen(gruppen) und die Höherwertigkeit des eigenen nationalen Kollektivs; zwar befürworten beide zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen auch unmittelbare Gewalt und werden dabei gegebenenfalls selbst handgreiflich – auf eigene Faust wie auch im Mob. Doch während der Rassist meistens mit der staatlich organisierten Abschiebung, Versklavung und Kolonisierung seiner Hassobjekte – die er je nachdem für triebhaft, faul, schmutzig, hinterhältig, primitiv oder kriminell hält – ruhig zu stellen ist, geht es dem Antisemiten um nicht weniger als die Auslöschung seiner Feinde, der Juden.

Sie nämlich hält er für die absolute Gegenrasse, für das Anti-Volk, das die „Völker“ zersetzt; sie verdächtigt er, im Verborgenen die Weltherrschaft zu planen; sie macht er für alles Übel dieser Welt verantwortlich: für Globalisierung und Egoismus, für Vereinzelung und die Zerstörung traditioneller sozialer Beziehungen, für die Macht der Banken und die Dominanz des Geldes, für Kosmopolitismus und Krieg. Kurz: Der Rassist konstruiert „Untermenschen“, denen er sich überlegen fühlt und die er dauerhaft aus den Augen geschafft haben und beherrschen will; der Antisemit sieht in den Juden so unsichtbare wie allgegenwärtige „Übermenschen“, deren von ihm selbst erfundene Allmacht letztlich nur durch eine möglichst vollständige Vernichtung zu brechen ist. Diese Vernichtung begreift er als Erlösung, als Rettung der Welt vor der Zerstörung durch Parasiten. Dass die Allmachtsfantasien, die der Antisemit den Juden unterstellt, seine eigenen sind, verweist auf die Projektionsleistung, die dem Judenhass zugrunde liegt und die Ausdruck einer schweren Persönlichkeitsdeformation ist. Mit Argumenten ist ihr deshalb auch nicht beizukommen, weshalb jede Diskussion mit einem Antisemiten immer dem Versuch ähnelt, einem Tier das Sprechen beizubringen.

Ob das ZfA es nun beabsichtigt hat oder nicht: Mit seiner Gleichsetzung von Antisemitismus und „Islamophobie“ hat es tatsächlich die Shoa bagatellisiert und den Judenhass in der islamischen Welt – inklusive der Vernichtungsdrohungen des iranischen Mullah-Regimes gegenüber Israel – zu einer vernachlässigenswerten Größe gemacht. Dem widerspricht auch nicht, dass die ZfA-Mitarbeiterin Juliane Wetzel zum letztgenannten Thema einen Vortrag auf der Konferenz hielt. Denn in diesem behauptete sie unter anderem, der „islamisierte Antisemitismus“ unter in Europa lebenden Muslimen habe sich erst in jüngster Zeit „aufgrund von Erfahrungen im Einwanderungsland“ entwickelt und sei eine „Reaktion auf soziale Ausgrenzung und Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt“. Solche verständnisinnigen Einschätzungen kommen einer Rechtfertigung gleich; sie erinnern stark an die „akzeptierende Sozialarbeit“ mit Neonazis und zeigen, dass ihre Urheberin von der Genese, Funktion und Wirkungsmacht des Antisemitismus nicht viel verstanden hat. Aber womöglich ist das auch nur logisch, wenn man seinen Arbeitsbereich im Zentrum für Ahnungslose allen Ernstes „Vorurteilsforschung“ nennt.

8.12.08

Zionist sozialdemokratischer Prägung



Im Oktober 1942 wurde Rudi Gelbard als elfjähriger Junge zusammen mit seinen Eltern aus Wien ins KZ Theresienstadt deportiert. Die Familie überlebte die Shoa, weil die Mutter in der Glimmerspalterei, einer kriegswichtigen Produktion, eingesetzt war. Als das Lager am 5. Mai 1945 befreit wurde, lebten von den etwa 10.000 Kindern, die dorthin verschleppt worden waren, noch 1.633 – darunter Rudi Gelbard. Neunzehn seiner Angehörigen hingegen wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Gelbard kehrte mit seinen Eltern nach Wien zurück. Sein Vater, ein gebrochener Mann, starb 1952 schwer krank mit 48 Jahren. Auch seine Mutter litt ihr Leben lang an den Folgen von Haft, Zwangsarbeit und Demütigungen. Sie starb 1973.

All das prägte Rudi Gelbard (Foto) für sein weiteres Leben. Bereits im Konzentrationslager war er zum Zionisten geworden; nach seiner Befreiung und Rückkehr kämpfte er – in der Kultusgemeinde und bei den Sozialdemokraten – gegen Holocaustleugnung, Antisemitismus, Naziaufmärsche und für die Aufklärung der NS-Verbrechen. Und er tut es noch heute. Nun ist im Verlag Franz Steinmaßl ein Buch über die Lebensgeschichte dieses in jeder Hinsicht bemerkenswerten, soeben 78 Jahre alt gewordenen Mannes erschienen: Die dunklen Seiten des Planeten. Rudi Gelbard, der Kämpfer. Eine Reflexion. Chava Gurion hat es gelesen.


VON CHAVA GURION

„Schon wieder ein Buch über die KZs. Als hätten die Israelis diese Sachen nicht schon genug instrumentalisiert für ihre widerliche Apartheid-Politik.“ Man kann sich sein Gegenüber auf der Rückfahrt per Bahn, von der Buchpräsentation in Linz nach Wien, nicht aussuchen. Einer Buchpräsentation, die mit der Begrüßung des Gastgebers vom Linzer Wissensturm sowie einfühlsamen Reden von Peter Weidner (Bund der Freiheitskämpfer Linz) und Sozialminister Erwin Buchinger eingeleitet wurde, anhand treffend ausgesuchter Textstellen eine spannende wie bannende Autorenlesung bot und schließlich im Vortrag der Hauptfigur Rudi Gelbard über die Shoa gipfelte. Niemand ging von diesem Abend, ohne ergriffen zu sein, aber es ging auch niemand ungetröstet.

Diesen Zufall, auf ein Gegenüber mit unmissverständlichem Zugang zu „diesen Sachen“, der Shoa nämlich, samt der leider weit verbreiteten, „zeitgemäßen“ Verknüpfung mit einer Feindseligkeit gegenüber Israel zu treffen, hat das Buch wirklich nicht verdient. Jenes Buch, das ich nun druckfrisch in den Händen halte und dessen Rückseite ich unvermeidlich dem Blick meines Gegenübers aussetze. Eines Gegenübers, der gewiss nicht bildungsfern ist und doppelt bedauerlich vom Mainstream instrumentalisiert wird. Die unfreiwillige, doch notwendige Diskussion mit ihm hat mit dem Buch selbst nichts zu tun und wäre eine andere, eigene Geschichte.

Andererseits: Gerade der Kämpfer Rudi Gelbard, qua Selbstbezeichnung „Zionist sozialdemokratischer Prägung“, wäre wohl erfreut, dass das Buch über ihn, eine zentrale Figur der Shoa-Überlebenden in Österreich, schon in den ersten Minuten seiner Öffentlichwerdung eine solche Diskussion über Israel und eine straffe Gegenargumentation zu einem offensichtlich stark links orientierten Friedensbewegten einleiten konnte. Das, was sich zwischen einem einfühlsam gestalteten, berührenden Umschlag in seiner äußeren Form als Buch präsentiert, ist allerdings in seiner unmittelbaren, immer wieder nachklingenden Wirkung viel mehr als das. Es ist vor allem mehr durch das, was es nicht ist, nie sein wollte und auch an keiner Stelle zu sein vorgibt.

Es ist keine herkömmliche Biografie – dazu fehlen die vom Autor Walter Kohl bewusst vermiedenen, weil von Rudi Gelbard kategorisch ausgeschlossenen Details über private Aspekte des Lebens eines Überlebenden der Shoa. Das macht das Buch umso interessanter, da es abschweifende Gedanken der Lesenden ausschließt und alle Sinne auf die unermesslich leidvolle Dramaturgie eines Lebens wirft, dessen erster Phase einer fröhlichen Kindheit eine zweite der Verachtung, Verfolgung und tödlichen Bedrohung gefolgt war – Kindheitsjahre von besonders prägender Bedeutung, wie es die Psychologie nennt. Eine geraubte Jugend mit der geraubten Perspektive, wenigstens das sein und werden zu können, was allen Gleichaltrigen der vom Rassenwahn der Nazi-Ideologie Unbetroffenen so selbstverständlich offen stand. Jugendjahre, reduziert auf die täglich wiederkehrende Perspektive, „auf Transport“ zu kommen, darauf, jeden Überlebenstag als gewonnenen zu empfinden und dennoch nicht zu wissen, ob Dankbarkeit dafür überhaupt angebracht ist.

Wer das Buch nur als weitere Grundlage der Shoa-Literatur rein wissenschaftlich als Nachschlagwerk nutzen möchte, auf den kommt einige Arbeit zu: Das Zahlen- und Datenmaterial ist zwar akribisch genau in den Text gewoben, alle Fakten sind belegt und die Quellen genannt; auf ein Sach- und Personenregister wurde vom Autor aber bewusst verzichtet. Der Textfluss wird auch nicht durch Fußnoten nach Wissenschaftlerart gehemmt. So soll man im Inhalt festgehalten werden und fortschreiten – und nicht in individuelle Unsicherheiten abschweifen, die auch nachträglich geklärt werden können. Dadurch wird von den Lesenden – besser: von den Erlebenden – zu Recht ein besonderer Zugang zum Inhalt gefordert: Der Wissensdrang kommt an der Geschichte des Rudi Gelbard nicht vorbei. Dennoch bietet das Buch zahlreiche Einblicke in bisher wenig oder kaum Dokumentiertes, in Zitate, Ergänzungen, Erläuterungen und Querverbindungen zu zeitgeschichtlichen Fakten, die der Autor akribisch recherchiert hat.

Im Sinne des besonderen Zugangs zum Inhalt wurde von Walter Kohl auch bewusst auf ein Inhaltsverzeichnis verzichtet. Die Geschichte des Rudi Gelbard ist keine, der man sich abschnittsweise, über spezielle Interessenspunkte nähern kann, schnell mal zwischen Kaffee und Frühstücksbrot oder zwischen Abendnachrichten und Hauptfilm. Dieses Buch fordert den Respekt der ganzen Zuwendung, wie das Leben des Rudi Gelbard.

Rudi Gelbard ist ein Verführer, Autor Walter Kohl ist ein Verführer. Er nimmt uns an der Hand und führt uns in seine Reflexion der Lebensgeschichte dieses ungebrochenen Kämpfers gegen Faschismus und Antisemitismus hinein, die uns nicht loslässt, bis wir im Heute angekommen sind. Fast gefangen, verführt vom großen Verführer Rudi Gelbard, suchte Walter Kohl während seiner Arbeit dennoch Distanz und befragte auch dessen Weggefährten und Freunde. Das Ergebnis blieb das gleiche. Es ist kein Abstand möglich zur Geschichte des Rudi Gelbard. Ja, dieses Buch ist eine Reflexion. Es ist aber gleichzeitig auch ein Freund. Immer wieder ein mahnender Freund, wenn wir uns übermütig in Alltagsbanalitäten verwirren, ein aufmunternder Freund, wenn wir in Hoffnungslosigkeit versinken. Niemand bleibt unerschüttert, niemand bleibt ungetröstet zurück. Doch auch niemand bleibt unaufgerufen.

No pasarán!

Walter Kohl: Die dunklen Seiten des Planeten. Rudi Gelbard, der Kämpfer. Eine Reflexion. Edition Geschichte der Heimat, Buchverlag Franz Steinmaßl, Grünbach 2008, 236 Seiten, 24,50 Euro,
ISBN 978-3-902427-56-4.

5.12.08

Die Gosse im Salon

Im norwegischen Staatsfernsehen wurde unlängst ein Auftritt des Comedians Otto Jespersen ausgestrahlt, der zu einem heftigen Streit führte. Jespersen hatte eine üble antisemitische Zote gerissen und wurde daraufhin von einem Mann, der neun seiner Angehörigen in der Shoa verloren hatte, bei der Polizei angezeigt. Sein Chef und einige Kollegen verteidigten den Schauspieler jedoch. Auf dem zum American Jewish Committee gehörenden Weblog Z-Word setzte sich Ben Cohen mit diesem Vorfall auseinander und zeigte dabei, dass Jespersen durchaus kein Einzelfall in dem skandinavischen Land ist – wo vor zwei Jahren bereits Jostein Gaarder mit judenfeindlichen Tiraden punkten konnte.


Kennen Sie schon den über die Juden, die Flöhe und die Läuse?

VON BEN COHEN, übersetzt und redigiert von Karl Pfeifer


Otto Jespersen erzählte seinem Publikum den folgenden „Witz“:
„Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen und an die Milliarden Flöhe und Läuse erinnern, die ihr Leben in deutschen Gaskammern verloren haben, ohne dass sie etwas Unrechtes getan haben – außer dass sie sich auf Personen mit jüdischem Hintergrund angesiedelt hatten.“
Er ist dabei nicht der erste europäische Komödiant, der in einem Auftritt Antisemitismus einsetzte – in Frankreich etwa gibt es den berüchtigten Dieudonne. Und so, wie Dieudonne Schwierigkeiten mit der Justiz bekam, so hat auch Jespersen Ärger bekommen. Die führende norwegische Zeitung Aftonbladet berichtete, dass Kurt Valner – ein Mann, der neun Angehörige durch die Nazimörder verlor – Jespersen bei der Polizei wegen Verhetzung anzeigte. Jespersen selbst schwieg dazu, aber andere Schauspieler verteidigten ihn, gemeinsam mit seinem Vorgesetzten Alf Hildtrum, der sagte: „Die Behauptung, Jespersen hege antisemitische Sympathien, ist vollkommen falsch. Ich glaube sie einfach nicht. Otto Jespersen hat sich in seinen Monologen um eine Pointe bemüht, und sein Text sollte im Kontext und nicht isoliert beurteilt werden.“

Ich bin nicht ganz sicher, was die Pointe und den Kontext betrifft. Aber ich verfolge aufmerksam einen anderen Kontext, der vom Wissenschaftler Manfred Gerstenfeld und anderen dokumentiert wurde: den nämlich, dass Antisemitismus – oft in Kombination mit antizionistischen Bildern – in Norwegen alarmierend häufig auftritt. Wie die israelische Tageszeitung Haaretz berichtet, sagte der ehemalige norwegische Ministerpräsident Kåre Willoch, die Behauptungen über Antisemitismus in Norwegen seien Ausdruck „der traditionellen Taktik, die Aufmerksamkeit vom realen Problem – Israels wohldokumentierter und unbestreitbarer Quälerei der Palästinenser – abzulenken“. Das ist die norwegische Version dessen, was David Hirsh das „Livingstone-Rezept“ nennt.

Willoch hat nicht auf Gerstenfelds spezifische Beispiele reagiert, die interessanterweise eine Reihe von Zeitungscartoons beinhalteten, die das gleiche abschätzige, moralisch scheinbar überlegene boshafte Kichern verursachen sollten wie der „Witz“ von Jespersen. Eine Karikatur beispielsweise zeigte einen ultraorthodoxen Juden, der „Du sollst morden“ in die zehn Gebote schreibt.* Eine andere Karikatur zeigte den israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert als Aufseher eines Vernichtungslagers, der lächelt und ein Gewehr trägt.**

All das veranschaulicht einen weiteren Punkt. Heutzutage werden rassistische Witze über Schwarze und andere Minderheiten weitgehend – und zu Recht – als Peinlichkeit betrachtet, als Domäne von gescheiterten Komödianten, die vor einem angeheitertem Publikum in zwielichtigen Klubs vortragen. Aber wenn diese Themen auf Juden bezogen werden, dann bekommen sie ganz plötzlich den delikaten Geschmack eines Spiels mit dem Verbotenen. Was reaktionär ist, wird radikal, was verblödet und beleidigend ist, wird bahnbrechend. So betritt die Gosse die erhabenen Höhen des Salons.

* Oberes Bild. Der Cartoon erschien am 7. Januar 2004 in der linken Zeitung Dagsavisen. Die Bildunterzeile lautet: „Die sieben Todessynonyme“; auf der Schriftrolle steht unter anderem: „morden“, „töten“, „erledigen“, „umbringen“ und „hinrichten“.
** Unteres Bild. Der Cartoon erschien am 10. Juli 2006 in der Zeitung Dagbladet und ist offenkundig eine Anspielung auf eine Szene in dem Film Schindlers Liste, in der der Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów, Amon Göth, von seinem Balkon aus willkürlich auf KZ-Häftlinge schießt.

Herzlichen Dank an André Z. für wertvolle Hinweise.

1.12.08

Vernichtende Logik



Es hätte zwar nicht der Aussagen eines islamischen Terroristen bedurft, um zu erkennen, warum auch das jüdische Chabad-Haus in Mumbai als Ort vernichtender Anschläge ausgewählt wurde. Schließlich hätte offensichtlicher nicht sein können, dass es den Mördern dort ausschließlich darum ging, Juden zu töten. Aber um den notorischen Zweiflern, Abwieglern und Verharmlosern jedweder Couleur sowie den Freunden und unerschütterlichen Verteidigern der selbst ernannten Religion des Friedens ihren Job so gründlich wie möglich zu versauen, ist das, was der 21-jährige Pakistaner Azam Amir Kasav der Times of India zufolge zu Protokoll gab, doch einigermaßen hilfreich: Man habe die israelischen „Gräueltaten“ gegen die Palästinenser „rächen“ wollen, erklärte Kasav im Verhör, und deshalb als malaysische Studenten getarnte „Kämpfer“ in das Gästehaus des jüdischen Zentrums eingemietet, um es erst auszukundschaften und dann zur Tat zu schreiten.

Es folgte ein neunfacher Mord; sechs Leichen sind bislang identifiziert. Es handelt sich um Rabbi Gavriel Holtzberg (den Leiter des Chabad-Hauses), seine Frau Rivka, Rabbi Aryeh Leibish Teitelbaum (den Kashrut-Prüfer des Zentrums), seinen Assistenten Bentzion Chroman, Yocheved Orpaz (eine Touristin aus Givatayim bei Tel Aviv) sowie Norma Shvarzblat Rabinovich, die aus Mexiko stammte und gerade nach Israel reisen wollte, um dort den 18. Geburtstag ihres Sohnes zu feiern und sich anschließend einbürgern zu lassen. Vor ihrer Ermordung wurden die Opfer von den Terroristen bestialisch gefoltert. Der zweijährige Sohn der Holtzbergs überlebte, weil ihn das Kindermädchen des ermordeten Paares, Sandra Samuel, wie durch ein Wunder an den Mördern vorbei aus dem Haus bringen konnte.

Die israelische Außenministerin Tzipi Livni fand treffende Worte für das, was sich in Mumbai zugetragen hatte: „Die Ereignisse der letzten Tage in Indien beweisen abermals, dass Extremisten danach trachten, anderen ihre Rechte zu nehmen, und nicht danach, Rechte für sich selbst zu gewinnen. Ihr Ziel war es, denjenigen Schaden zuzufügen, die die freie Welt repräsentieren, und sie trafen ein Symbol des Judentums. Israel und das jüdische Volk haben erneut einen schweren Preis gezahlt.“ Und in der israelischen Tageszeitung Haaretz kommentierte Amos Harel: „Dass global agierende djihadistische Organisationen Israelis und Juden ins Visier nehmen, ist nicht neu. Nun ist darüber hinaus klar, dass die Islamisten auch dann Israelis und Juden zu Zielen ihres Terrors machen, wenn der Hintergrund ihrer Angriffe ersichtlich ein regionaler Konflikt (in diesem Fall zwischen Indien und Pakistan) ohne Verbindung zu uns ist.“

Noch einmal: Offenkundiger antisemitisch motiviert als die Mordorgie im Chabad-Haus kann ein Terrorangriff kaum sein. Die Opfer eint ausschließlich, dass sie Juden waren – und damit in den Augen ihrer islamischen Mörder qua Sippenhaftung verantwortlich für alles, was Israel tut und lässt. Also traf es den antizionistischen Rabbi Teitelbaum, der den jüdischen Staat dezidiert ablehnte, genauso wie eine israelische Touristin oder eine mexikanische Jüdin. Es ist dies die gleiche antisemitische Logik, durch die auch die suicide attacks in Bussen, Cafés und Supermärkten, die Angriffe der Hamas mit Kassam- und der Hizbollah mit Katjuscha-Raketen sowie die Vernichtungsdrohungen des iranischen Mullah-Regimes Israel gegenüber gekennzeichnet sind. Und keine noch so – angeblich oder tatsächlich – missliche Lebenslage von Muslimen, keine einzige wie auch immer geartete Handlung des jüdischen Staates taugt da im Entferntesten zur Rechtfertigung oder auch nur zur Erklärung. Die Mordbrennerei von Mumbai hat das eindrücklich gezeigt – zum wiederholten Male.