27.9.08

Am Israel chai!



Antizionisten in der Offensive: Vor der UN-Vollversammlung erklärt Mahmud Ahmadinedjad, wie die Juden die Welt beherrschen, in einem Buch behauptet der israelische Historiker Shlomo Sand, die Juden seien gar kein Volk, sondern bloß eine Religionsgemeinschaft, und die FAZ lässt Evelyn Hecht-Galinski Klage über die „Antisemitismuskeule“ der „jüdisch-israelischen Lobby“ führen. Drei nicht gerade randständige Ereignisse, deren zeitlicher Zusammenfall zwar zufällig ist, die aber sehr anschaulich zeigen, welche Popularität die angeblich so marginale und unterdrückte „Israelkritik“ genießt.

In den letzten Wochen waren die deutschen Feuilletons voll mit Beiträgen zur Auseinandersetzung zwischen Evelyn Hecht-Galinski und Henryk M. Broder. In den weitaus meisten Texten wurde implizit oder explizit Partei für die Erstgenannte ergriffen, und manche Kommentatoren großer Tageszeitungen verstiegen sich dabei gar zu der Behauptung, es sei „moralischer Totschlag“, wo nicht gleich „tödlich“, jemanden als Antisemiten zu bezeichnen. „Man hatte den Eindruck, dass sich eine eingeschüchterte deutsche Öffentlichkeit vor ‚Antisemitismus-Jägern’ kaum noch retten kann“, resümierte Matthias Küntzel treffend. Wären diese „Antisemitismus-Jäger“ tatsächlich so allgegenwärtig, wie es von FAZ bis taz suggeriert wurde, dann hätte es hierzulande angesichts der Rede des iranischen Präsidenten vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen folgerichtig einen regelrechten Aufschrei geben müssen. Doch der blieb schlicht und ergreifend aus. Man nahm „die Provokation von New York als solche nicht einmal wahr“ (Küntzel). Und das, obwohl die deutsche Politik doch, folgt man Evelyn Hecht-Galinski, „hinter den israelischen Medien verschwunden“ und „die jüdisch-israelische Lobby mit ihrem Netzwerken“ überall „am Arbeiten ist“.

Möglicherweise ist diese Lobby also gar nicht so mächtig, wie Hecht-Galinski es vermutet. Immerhin hat sie weder Ahmadinedjads Ansprache noch den Artikel der Berufstochter in der FAZ zu verhindern vermocht – und auch nicht das Buch des israelischen Historikers und früheren Matzpen-Aktivisten Shlomo Sand mit dem Titel „Wann und wie das jüdische Volk erfunden wurde“. Sand behauptet darin, die Juden seien – anders, als es „zionistische Mythen“ wollten – nie ein richtiges Volk gewesen, sondern immer bloß eine religiös-kulturelle Gemeinschaft, weshalb Israel auch seine Identität als jüdischer Staat aufgeben müsse, um weiter existieren zu können. Zwar sei „nach Hitler eine Solidarität unter Juden sehr sinnvoll“, diese sei aber „nicht national“ und dürfe „nicht dazu führen, dass Juden sich in Israel wie die Hausherren verhalten“.

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Mahmud Ahmadinedjad, Evelyn Hecht-Galinski und Shlomo Sand. Ahmadinedjad ist ein fanatischer Judenhasser und trachtet danach, Israel mittels Atomwaffen auszulöschen. Hecht-Galinski dämonisiert den jüdischen Staat, rückt ihn in die Nähe des NS-Regimes und beklagt die angebliche Allmacht einer pro-israelischen Lobby. Trotzdem wäre sie nicht weiter der Rede wert, hätte sie nicht einen so prominenten Vater gehabt, dessentwegen sich die deutsche Presse auf sie stürzt, um sich per Kronzeugenregelung die eigene „Israelkritik“ salvieren zu lassen. Sand wiederum ist ein areligiöser Geschichtswissenschaftler, der geflissentlich übergeht, dass Mythen unweigerlich zu jedem Volk und zu jedem Nationalismus gehören, dass den knapp zweitausend Jahren Judenverfolgung – mit der Shoa als Kulminationspunkt – in einer staatlich organisierten Welt nur durch die Gründung eines eigenen, explizit jüdischen Staates wirksam zu begegnen war und dass dieser jüdische Staat als solcher bestehen bleiben und sich gegen seine Feinde verteidigen muss, um weiterhin Zufluchtsort für alle vom Antisemitismus bedrohten Juden sein zu können.

Was diese drei jedoch eint, ist ein Antizionismus, der allerspätestens seit 1933 – dem Zeitpunkt, ab dem das nie eingelöste Assimilationsversprechen allmählich in die Vernichtung überging, weshalb anschließend erst recht keine andere Wahl mehr blieb als die Ausrufung eines jüdischen Staates – gar nichts anderes mehr sein kann als eine Abart des Antisemitismus. Wo Mahmud Ahmadinedjad von der „kleinen, aber hinterlistigen Zahl von Leuten namens Zionisten“ spricht, die „in einer tückischen, komplexen und verstohlenen Art und Weise einen wichtigen Teil der finanziellen Zentren sowie der politischen Entscheidungszentren einiger europäischer Länder und der USA“ beherrschten, weshalb „die großen Völker Amerikas und verschiedene Nationen in Europa einer kleinen Zahl habgieriger und aggressiver Leute gehorchen“ müssten, lässt sich Evelyn Hecht-Galinski – unter dem vernehmlichen Beifall ungezählter nichtjüdischer Mitstreiter – über die „jüdisch-israelische Lobby“ aus, die Kritiker der israelischen Politik „mundtot machen“ wolle, im Zentralrat der Juden in Deutschland ein „Sprachrohr“ habe und in deutschen Politikern willfährige Erfüllungsgehilfen finde. Wo Neonazis, Antiimps und Islamisten bestreiten, dass die Juden überhaupt ein „echtes“ Volk sind, bedient Sand sie mit seinen Ausführungen darüber, dass die Zionisten dieses Volk erst erfunden hätten.

Der Antizionismus hat den Antisemitismus nach 1948 sozusagen modernisiert, indem er Elemente des alten, ursprünglichen Judenhasses auf Israel übertragen hat, das dadurch gewissermaßen zum „Juden unter den Staaten“ wurde, wie es der Historiker Léon Poliakov einmal treffend formulierte. Wenn beispielsweise Israel unterstellt wird, einen Ausrottungskrieg gegen die Palästinenser zu führen, im Gazastreifen sowie der Westbank das Warschauer Ghetto zu wiederholen und überhaupt die größte Gefahr für den Weltfrieden darzustellen, dann scheint die alte Mär vom Juden auf, der mit seinem kriegerischen Wesen und Tun die ganze Welt ins Verderben stürze. Wenn es heißt, der Zentralrat der Juden in Deutschland sei nichts weiter als ein „Sprachrohr der israelischen Regierung“, dann findet der antisemitische Topos von der jüdischen Illoyalität und Zersetzungstätigkeit seine aktualisierte Neuauflage. Wenn europäischen und amerikanischen Politikern vorgehalten wird, sie kuschten vor einer „jüdisch-israelischen Lobby“ und verschwänden hinter den israelischen Medien, dann ist das die Neuformulierung der antisemitischen Behauptung, die Juden beherrschten fremde Staaten und die dortige Presse. Und wenn – in welcher Absicht auch immer – behauptet wird, die Juden seien kein (Staats-) Volk und auch nie eines gewesen, dann wiederholt sich die antisemitische Erzählung von der jüdischen Wurzellosigkeit und Künstlichkeit oder bekommt zumindest neue Nahrung.

Angesichts dessen ist es mitnichten so, dass allenthalben die „Antisemitismuskeule“ geschwungen wird, es ist mitnichten so, dass sich die Antizionisten und „Israelkritiker“ in der Defensive befinden oder gar unterdrückt werden, und es ist mitnichten so, dass sich der Antisemitismus auf dem Rückzug befindet, wie Avi Primor glaubt. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Und wer das nicht wahrhaben will, verharmlost den Judenhass oder betreibt ihn gleich selbst. Tertium non datur.

Foto (von der heutigen Demonstration gegen den „Al-Quds-Tag“ in Berlin): Just/Just.Ekosystem.org

22.9.08

Volksfrontspektakel am Rhein



Eigentlich hatte ich mich auf ein ruhiges Wochenende eingerichtet und wollte am Samstag gar nicht nach Köln fahren, um mir anzuschauen, wie die Karnevalshochburg die Kundgebung einer knallerechten Wählervereinigung zu verhindern versucht. Denn es ist doch immer sehr absehbar, wie solche Veranstaltungen verlaufen: Die Zivilgesellschaft vom DGB bis zur Linkspartei und von den Kirchen bis zum lokalen Fußballverein erzählt irgendwas von Toleranz und Multikulti, von „Wehret den Anfängen“ und „bunt statt braun“. Die zahllosen linken Sekten bringen auf Flugblättern und Transparenten den Imperialismus ins Spiel, fordern „Freiheit für Palästina“ und finden, der Rassismus spalte die Arbeiterklasse. Die Autonomen wiederum wollen den Nazis ganz dringend ein paar aufs Maul hauen, und weil die Bullen sie daran hindern, prügeln sie sich halt mit denen und zerdengeln außerdem ein paar Fensterscheiben oder zünden Mülltonnen an. Der Aufzug der Rechten findet schließlich statt, aber keiner hört und sieht ihn, weil ringsum alles abgesperrt ist. Irgendwann ist der ganze Spaß vorbei, und dann verlautbaren alle das, was man schon kennt: Die Zivilgesellschaft ist stolz, sich „quer gestellt“ und „ein Zeichen gegen den drohenden Faschismus gesetzt“ zu haben, die linken Sekten wollen der Revolution wieder ein Stückchen näher gekommen sein, die Autonomen beklagen die „staatliche Repression“, und die Rechten jammern, in Deutschland gebe es einfach keine Meinungsfreiheit. Zu Abweichungen von diesen so gewohnten wie öden Ritualen kommt es eher selten.

Wie gesagt: Eigentlich wollte ich die x-te Auflage des Immergleichen nicht unbedingt sehen. Eine Zeitung bat mich aber, das Treiben ein bisschen zu beobachten und gegebenenfalls auch darüber zu berichten. Also habe ich mich doch in den Zug gesetzt und bin hingefahren. Am Tag zuvor hatte Pro Köln – so heißt die rechte Wählervereinigung – bereits eine Pleite nach der anderen einstecken müssen: Das Schiff, auf dem es seine „internationale Pressekonferenz“ gab, legte angesichts eines autonomen Steinhagels überstürzt ab und irrlichterte anschließend stundenlang auf dem Rhein umher, weil auf den Brücken und an den Anlegestellen wenig zimperliche Demonstranten standen. Die Bustour durch angebliche Kölner „Problemviertel“ wurde von der Polizei verboten. Taxifahrer weigerten sich, Veranstalter und Teilnehmer des „Anti-Islamisierungskongresses“ zu befördern, und ein Hotel setzte die rechten Gäste kurzerhand wieder vor die Tür. Wo Pro Köln, seine Anhänger und seine Gäste von FPÖ, Lega Nord und Vlaams Belang auch immer auftauchen: Sie sind unerwünscht. Ganz Köln scheint an diesem Wochenende eine einzige Antifa zu sein.

Ganz Köln ist eine Antifa...

Als ich um neun Uhr in der Domstadt eintreffe, bestätigt sich dieser Eindruck. Auf dem Roncalliplatz veranstaltet der DGB eine Kundgebung vor mehreren tausend Menschen. Der Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma begrüßt zunächst die Vertreter der islamistischen Ditib, die in Ehrenfeld die neue Großmoschee baut, demonstrativ herzlich. Dann wendet er sich an sein Wahlvolk: „Danke, dass ihr hier seid! Danke, dass ihr unsere Stadt nicht den Ausländerfeinden und Rechtsextremen überlasst! Danke, dass ihr ein Zeichen setzt für Toleranz und friedliches Miteinander!“ Über Pro Köln sagt der CDU-Mann in bestem Antifa-Deutsch: „Diese braunen Biedermänner sind in Wahrheit Brandstifter, Rassisten im bürgerlichen Zwirn, subtile Angstmacher. Dieser verfaulten Clique des Eurofaschismus, diesen Haiders und Le Pens und wie sie alle heißen, rufe ich zu: Da ist der Ausgang, da geht’s nach Hause. Wir wollen euch nicht!“ Vernehmlicher Applaus folgt, es werden SPD-, DGB-, Linkspartei- und Pace-Fahnen geschwenkt, die Grünen verteilen ihrer Parteifarbe entsprechende Aufkleber mit der Aufschrift „No go Nazis“.

Ein paar hundert Meter weiter, in einer schattigen Nebenstraße der Fußgängerzone, treffe ich auf eine weitere Kundgebung. Die ist allerdings deutlich kleiner; vielleicht dreißig Leute hören Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime zu, die engagiert für eine „dritte Kraft“ wirbt. „Wir sind gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, aber auch gegen die menschenrechtswidrigen, antidemokratischen und patriarchalischen Grundinhalte und Praktiken des Islam“, ruft sie in ihr Mikrofon. Hinter Ahadi halten Aktivisten der Kritischen Islamkonferenz (KIK) Pappschilder in die Höhe. „Aufklären statt verschleiern“, „Frauenrechte sind Menschenrechte“ und „Gegen Faschismus heißt auch gegen islamische Herrschaftskultur“ steht auf ihnen. Der prominenteste Schildträger ist fraglos Udo Ulfkotte. Der frühere FAZ-Redakteur wollte eigentlich eine Massenpartei gegen den Untergang des Abendlandes ins Werk setzen und knüpfte zu diesem Behufe auch viele Kontakte zu europäischen Rechtsparteien, bis er sich vor ziemlich genau einem Jahr von Gruppen wie Pro Köln und dem Vlaams Belang distanzierte. Nun ist er also bei der KIK gelandet.

Eine Gruppe junger Mädchen in Antifa-Outfits bleibt kurz stehen und verfolgt Mina Ahadis Rede mit finsteren Mienen. Als Ahadi sagt: „Wir sind auch gegen den Bau von Moscheen, denn das sind keine Gebetshäuser, sondern Schulungszentren der Islamisten“, wird sie von den Mädchen ausgebuht und als „Rassistin“ beschimpft. „Ich komme aus dem Iran und bin vor dem Islam geflohen“, entgegnet sie den Aktivistinnen, doch die werden nur noch aggressiver. „Halt’s Maul“, brüllt eine von ihnen und präsentiert ein selbst gemaltes Schild, auf dem „Moschee olé!“ steht. Dann bewegt sich die Gruppe unter „Nazis raus“-Rufen Richtung Roncalliplatz, Mina Ahadi kann ihre Ausführungen fortsetzen.

Ich ziehe weiter zum Gürzenich, das ganz in der Nähe des Heumarkts liegt, auf dem um zwölf Uhr die Kundgebung von Pro Köln beginnen soll. Je näher dieser Zeitpunkt rückt, desto voller wird der Platz und umso hektischer und aufgeregter wird die Stimmung. Jemand erzählt mir, die Autonomen hätten versucht, an einigen Stellen die Absperrungen zum Heumarkt zu durchbrechen. Daraufhin habe es Straßenschlachten mit der Polizei und Festnahmen gegeben, aber jetzt sei alles wieder ruhig. Am Gürzenich stehen zwei Bühnen, eine große und eine kleine. Auf der großen sollen in Kürze diverse Kölner Bands ihr „Arsch huh“-Konzert beginnen, von der kleinen aus ruft ein Mann in sein Mikrofon: „Wer noch blockieren will, bekommt hier die grünen Zettel dafür.“ In Deutschland muss halt alles seine Ordnung haben. Die Demonstranten versammeln sich jetzt vor den verschiedenen Polizeisperren, viele haben Transparente dabei, vor allem die unzähligen, straff organisierten kommunistischen Kleinstgruppen. „Arbeitsplätze statt Ausländerhetze!“, „Krieg dem imperialistischen Krieg!“ und „Gegen Rassismus und Sozialabbau!“ lauten die Parolen. Die Linksparteijugend Solid verteilt ihre Zeitung, in der unter anderem zu lesen ist, „was die Klimaveränderungen mit Ausbeutung und Rassismus zu tun haben“. Irgendwie hängt ja alles mit allem zusammen.

...und die Antifa spielt Polizei

Kurz darauf sind sämtliche Zugänge zum Heumarkt dreifach hermetisch abgedichtet: von Polizisten, von Sperrgittern und von Demonstranten, die sich hingesetzt haben. Auch mit der Bahn ist der Kundgebungsort der Rechten nicht zu erreichen, weil weitere Demonstranten die Gleise blockieren. Ich bin neugierig, was passiert, wenn man trotzdem versucht, zum Heumarkt zu gelangen, und werde an einem Blockadepunkt einige Meter vor dem Erreichen der Polizeikette von zwei energischen jungen Frauen gestoppt. „Hier kommt keiner durch“, sagt die eine, und die andere fragt mich: „Was willst du da eigentlich?“ Mein Presseausweis überzeugt sie nicht: „Du kannst über uns schreiben, das reicht“, werde ich knapp beschieden, und: „Wir können leider keine Ausnahme machen.“ In Köln sind heute also nicht nur alle Antifas, sogar die Polizisten, sondern auch alle Polizisten, sogar die Antifas. Als ich sehe, was denjenigen widerfährt, die vom menschenleeren Heumarkt kommen und in die proppevolle Innenstadt wollen, bin ich den beiden Frauen aber letztlich sogar dankbar für ihre Zurückweisung. Ich hätte mich nämlich nur ungern so herumschubsen lassen wie die zwei Anwohner, die den Blockierern mehrmals erklären müssen, dass sie Pro Köln auch nicht mögen und eigentlich nur zum Einkaufen wollen.

Ich gehe zum Gürzenich zurück, wo gerade das „Arsch huh“-Konzert begonnen hat. Henning Krautmacher, den Frontmann der Band De Höhner, erkennt man schon aus hundert Metern Entfernung an seinem heinerbrandverdächtigen Schnauzbart und seinem Vokuhila-Haarschnitt. Er gibt gerade einen umgedichteten Karnevalshit zum Besten. „Die Blockade jeht weiter, kein Nazi kommt doorsch“, kölscht er a cappella. Dann erklärt er: „In Köln ist immer alles ein bisschen wie an Fastelovend“ und stimmt mit seiner Truppe „Hey Kölle, do ming Schtadt am Rhing“ an. Natürlich singen nahezu alle lauthals und gut gelaunt den gefühligen Schlager mit. Auch die Redner versäumen es nicht, lokalpatriotische Karnevalsslogans in ihre Ansprachen einzuflechten. „Faschisten bleiben Faschisten, Rassisten bleiben Rassisten, viva Colonia“, ruft beispielsweise der SPD-Oberbürgermeisterkandidat Jürgen Roters der Menge zu, und die SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün sagt: „Danke, Köln. Kölle alaaf!“ Fehlt nur der Tusch. Ditib-Geschäftsführer Mehmet Yildirim bekommt ebenfalls Gelegenheit, etwas zu sagen, und er ist ganz begeistert von seinen deutschen Mitbürgern. Für seine Worte bekommt er viel und lauten Beifall. An den politischen Zielen seiner Organisation – die als verlängerter Arm der türkischen Religionsbehörde fungiert und eine besonders rigide Form des Islam vertritt – nimmt keiner der versammelten Zivilcouragisten Anstoß.

Auf dem Heumarkt haben sich derweil gerade einmal fünfzig Pro Köln-Anhänger eingefunden, weitere zweihundert sollen auf dem Köln-Bonner Flughafen festsitzen, heißt es. Um kurz vor eins bricht die Polizei die klägliche Kundgebung der Rechten schließlich ab und verbietet sie. „Es wäre völlig unverhältnismäßig, den Teilnehmern der Pro Köln-Veranstaltung mit Wasserwerfern und Spezialeinheiten den Weg zum Heumarkt zu ebnen“, wird Polizeipräsident Klaus Steffenhagen später seine Entscheidung begründen. „Damit würden viele unbeteiligte Kölner Bürger und Bürgerinnen und auch die friedlichen Demonstrationsteilnehmer unkalkulierbaren Risiken ausgesetzt.“ Als die Nachricht vom vorzeitigen Ende der rechten Manifestation die Runde macht, wird die Stimmung bei den Gegendemonstranten noch besser. Doch ihre Blockaden wollen viele noch nicht auflösen. „Die Faschos müssen ja irgendwann hier durch“, erklärt mir ein Palituchträger mit Sonnenbrille. „Und dann wollen wir sie mal höflich fragen, wie eigentlich ihre Kundgebung war. Deshalb bleiben wir noch ’ne Weile hier stehen.“ Ich hingegen trete den Heimweg an und überlege währenddessen, was ich da gerade erleben durfte.

Sicher ist: Mitleid mit Pro Köln muss man nicht haben. Denn diese Gruppierung, die bei den letzten Kommunalwahlen immerhin in Fraktionsstärke in den Kölner Stadtrat eingezogen ist, fällt immer wieder durch kaum verhohlenen Ausländerhass auf. Mal hetzt sie gegen Roma-Flüchtlinge, mal zieht sie ganz allgemein gegen „Asylbetrüger“ oder „Sozialschmarotzer“ zu Felde. Seit einiger Zeit hat sie sich auf Türken und Muslime eingeschossen. Ihr Vorsitzender Markus Beisicht war früher bei den Republikanern und der Deutschen Liga für Volk und Heimat, Gleiches gilt für den Fraktionsgeschäftsführer Manfred Rouhs, der außerdem noch bei der NPD aktiv gewesen ist. Wer wenigstens noch ein paar Latten am Zaun hat, hält eine angemessene Distanz zu dieser Bagage. Zu lachen haben Beisicht, Rouhs und Gefolgschaft an diesem Wochenende nichts: Ihr großmäulig beworbener „Anti-Islamisierungskongress“, dessen Höhepunkt die Kundgebung auf dem Heumarkt sein sollte, geriet zum völligen Desaster. Und das nicht nur, weil die Kölner sich ihm in den Weg gestellt haben, sondern auch deshalb, weil die angekündigte Prominenz der europäischen Rechten größtenteils gar nicht erst anreiste und die Teilnehmerzahl deutlich hinter den Erwartungen zurück blieb. Dieses – zumindest vorläufige – Scheitern dieser in der Tat zutiefst rassistischen Veranstaltung ist zunächst einmal ohne Zweifel begrüßenswert.

Ein Oberbürgermeister und sein bewaffneter Arm

Dennoch war die Kölner Volksfront gegen Rechts mit Oberbürgermeister Schramma an der Spitze und der Antifa als dessen bewaffnetem Arm beileibe keine rundum erfreuliche Angelegenheit. Denn so wild entschlossen und überaus aktiv sie die deutschen Ultrarechten matt gesetzt hat, so blind und taub ist sie gegenüber der islamischen Variante des Faschismus – einer Variante, von der zumindest derzeit ganz erheblich mehr Gefahr ausgeht als von den Schlipsnazis der Marke Pro Köln. Wie zum Beweis dafür gab es, ebenfalls am Samstag, einen schweren Terroranschlag der Al-Qaida auf ein Luxushotel in Islamabad mit über 50 Toten. Doch das dürfte die meisten der Kölner Demonstranten allenfalls am Rande interessiert haben, wie sie auch der antisemitische Terror von Hamas & Hizbollah nicht kümmert, ihnen das iranische Mullah-Regime samt seiner Vernichtungsdrohungen gegen Israel und seiner Holocaustleugnung gleichgültig ist und sie nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollen, welche politischen Ziele eigentlich die erzreaktionäre Ditib mit dem Moscheebau in Köln-Ehrenfeld verfolgt. Was aber ist das für eine Zivilgesellschaft, der solche Unzivilisiertheiten am Arsch vorbei gehen? Und was ist das für eine Antifa, deren Aktivitäten gegen den „Fa“ genau dort aufhören, wo es überreichlich etwas gegen ihn zu tun gäbe?

Nicht einmal zu den grundlegendsten Einsichten sind die Kämpfer gegen Rechts fähig – Einsichten, wie sie Ralph Giordano nach der Kölner Demonstration sehr treffend in einem Beitrag für die Welt am Sonntag formuliert hat. „Das Großspektakel ist eine Mogelpackung“, schrieb er dort, „gibt es doch in Wahrheit zwischen der Rechts-außen-Camorra des alten Kontinents und islamischer Orthodoxie zahlreiche Parallelen und Wesensverwandtschaften – in der reaktionär-patriarchalischen Familienmoral, der Verachtung von Frauen, der Ablehnung des aufgeklärten und emanzipierten Individuums, dem spezifischen Hass auf Juden und dem gemeinsamen Ziel, der Zerstörung des demokratischen Verfassungsstaates“. Keine Erkenntnisse, für die man ein abgeschlossenes Hochschulstudium bräuchte, und dennoch war nichts davon am Samstag in Köln zu vernehmen. Stattdessen durfte sich selbst Mina Ahadi den Vorwurf anhören, eine „Rassistin“ zu sein, obwohl sie nicht nur die Zumutungen der Politreligion Islam am eigenen Leib kennen gelernt, sondern auch ihre Ablehnung von Pro Köln und Konsorten sehr deutlich gemacht hat. So deutlich, wie auch Giordano wurde: „Im Kampf gegen den Terrorismus unter der Fahne des Propheten wie auch gegen eine schleichende Islamisierung, wie ich ihn an der Seite kritischer Muslime führe, ist der Euro-Faschismus kein Bundesgenosse, sondern der eingeborene Feind der historisch und politisch berechtigten Islamkritik. Mit aller Kraft gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – ja! Aber ebenso gegen Ausgrenzung und Abschottung von Frauen in den Parallelgesellschaften, gegen die Inflation von Zwangsehen, die unsägliche Perversität der ‚Ehrenmorde’ und manch andere Praktiken.“

Doch vom islamischen Faschismus war in der Domstadt so gut wie gar nicht die Rede, und deshalb mochte Giordano die Blockade der Pro Köln-Kundgebung auch nicht uneingeschränkt loben: „Entdecke ich doch unter denen, die sich da lautstark gegen den ‚Anti-Islamisierungskongress’ engagieren, nur allzu viele, die jede Kritik am Islam, an seiner Geschichte, seiner Vergangenheit und Gegenwart notorisch als ‚rassistisch’ oder ‚islamophob’ denunzieren. Multikulti-Illusionisten, xenophile Einäugige, Gutmenschen vom Dienst, Beschwichtigungsapostel à la Claudia Roth und Hans-Christian Ströbele, für die das Spektakel der Euro-Faschisten nur eine weitere Gelegenheit war, sich in ihrer unkritischen Islamophilie zu sonnen.“ Der Schriftsteller kündigte daher an: „Ich werde trotz aller Einschüchterungsversuche von deutscher wie von muslimischer Seite auch weiterhin bekämpfen, was mich auf meine alten Tage das Fürchten lehren will – den militanten Islam, den einheimischen Rassismus und die Politkatastrophe der deutschen ‚Umarmer’. Und das wie bisher an der Seite so tapferer Muslima wie Necla Kelek, Seyran Ates, Mina Ahadi und Ayaan Hirsi Ali.“

Den Kölner Ralph Giordano hat niemand gebeten, am vergangenen Samstag auf dem Roncalliplatz oder am Gürzenich zu reden. Bereits das spricht Bände. Hätte man ihn eingeladen und hätte er das gesagt, was er in der Welt am Sonntag geschrieben hat, wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein gellendes Pfeifkonzert die Folge gewesen. Denn bei denjenigen, die die mörderische Intoleranz des Islam anprangern, hat die kollektive kölsche Toleranz ein so jähes Ende wie sonst nur bei deutschen Rechtsradikalen.

17.9.08

Jeder nur ein Kreuz



Zweitausendacht minus ungefähr dreiunddreißig Jahre später, Samstagnachmittag, kurz vor der Sportschau:
Ein herabstürzendes Kruzifix hat in einem Pfarrsaal in München eine Rentnerin bei Gymnastikübungen verletzt. Nach Polizeiangaben war das 15 Kilogramm schwere Kreuz auf die 70 Jahre alte Teilnehmerin einer Senioren-Gymnastikgruppe gestürzt. Das Kruzifix habe sich aus unbekannter Ursache in vier Metern Höhe von der Wand gelöst. Die Rentnerin, die unterhalb des Kreuzes saß, erlitt eine Platzwunde am Kopf und Prellungen im Nacken. Jesus verlor beim Aufprall seinen rechten Arm.
Da hat der fromme Wunsch namens „Der Herr komme über euch“ aber erstens mal eine ganz neue Bedeutung und zweitens seine unverzügliche Erfüllung erfahren. Glaube kann halt nicht nur Berge versetzen. Auch wenn sich spontan Mitleid mit dem Sohn des Allmächtigen einstellt: Erst arm dran, dann Arm ab. Doch ganz abgesehen davon wirft die Geschichte eine Reihe von Fragen auf: Hatte Jesus die Schnauze voll davon, auf ewig für die Verfehlungen seiner Schäfchen büßen zu müssen? Wer hat den Brettlsepp anschließend wieder festgenagelt? Trägt er jetzt eine Prothese oder nur eine Schlinge? Kann die Rentnerin bei der Versicherung einen Sportunfall geltend machen? Und welche Gymnastikübungen veranstaltet man eigentlich so in einem Pfarrsaal? Bibelweitwerfen? Kandelaberstemmen? Weihwassertreten?

Die Moral von der Geschicht’ liegt jedenfalls auf der Hand: Gott ist ein Sadist und Zyniker, da hat Henryk M. Broder einfach Recht. Religion scheint außerdem eine verdammt gefährliche Angelegenheit zu sein. And now for something completely different.

Einen herzlichen Dank an Claudio Casula für wertvolle Anregungen.

16.9.08

Mord und Totschlag



Deutschland in Angst: Nicht den Antisemitismus, sondern den Antisemitismusvorwurf meint man hierzulande fürchten zu müssen. Die Ahnung, dass dieser berechtigt ist, treibt zu irren Projektionen.


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Die gute Nachricht: Der Antisemitismus wächst nicht, sondern er geht ständig zurück. Die schlechte Nachricht: Der das sagt, hat keine Ahnung und gibt das auch offen zu. Damit ist die gute Nachricht schon wieder perdu. Die Rede ist von Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Berlin und heutiger Leiter des Zentrums für Europäische Studien an der Universität Herzliya. In dieser Doppelfunktion als politischer und wissenschaftlicher Kompetenzträger erklärte er jüngst im Deutschlandradio Kultur, dass „der Antisemitismus regelmäßig seit dem Zweiten Weltkrieg schrumpft“ – in Amerika, in Europa und auch in Deutschland. Gleichzeitig gestand Primor: „Den Antisemitismus genau zu beschreiben, das konnte ich noch nie. Ich konnte nur sagen, wer kein Antisemit ist. Das ist mir klar.“ Wie aber kommt jemand, der erklärtermaßen keinen Begriff vom Antisemitismus hat, dazu, dessen Schwinden festzustellen? Ganz einfach: Indem er gewissermaßen ex negativo vorgeht, also ein Ausschlussverfahren anwendet und immer mehr Menschen auch dann für Nicht-Antisemiten hält, wenn diese – heftigst „israelkritisch“ erregt – erheblichen emotionalen und rhetorischen Aufwand betreiben, um das genaue Gegenteil zu beweisen.

Der begriffslose Experte

So findet es Primor zwar „äußerst grotesk“, die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit dem Vernichtungswahn der Nationalsozialisten in eins zu setzen, doch dass das „mit Antisemitismus verbunden ist, glaube ich nicht“. Für ihn ist jedenfalls mit der Dämonisierung Israels, wie sie sich überdeutlich in den NS-Vergleichen ausdrückt, die Grenze zum Antisemitismus noch nicht überschritten. „Dieser ganze Vergleich“, kommentierte Primor exemplarisch die Analogisierung von Westbank und Warschauer Ghetto, „ist derartig grotesk, dass ich überhaupt keine Begriffe dazu habe“. Eben: Den einzig passenden Begriff, den des Antisemitismus nämlich, führt Primor nicht im Repertoire. Vielmehr müht er sich um Nachsicht: „Ich glaube, dass Leute die Tendenz haben zu übertreiben, wenn sie eine These beweisen wollen.“ Und statt solche „Thesen“ wie auch ihre „Beweise“ als rundweg indiskutabel – weil aus antiisraelischem respektive antisemitischem Ressentiment entsprungen – abzulehnen, fordert Primor ganz im Gegenteil, den „Diskurs“ nicht zu verweigern. Statt vom Antisemitismus zu reden, so seine Mahnung an die Israelis und ihre Freunde, sei es besser, sich mit der „Kritik“ am jüdischen Staat auseinanderzusetzen, die ja meistens „sachlich“ und „ehrlich“, wenn auch „sehr oft falsch“ sei.

Primor glaubt gleichwohl, erklären zu können, woher die Auffassung rührt, es gebe kein Abflauen, sondern ein Anwachsen des Antisemitismus. Sie stamme, so der Nicht-Antisemitismus-Experte, von den immer zahlreicher werdenden Nicht-Antisemiten, die immer sensibler würden: „Weil die Leute eben nicht Antisemiten sind, sind sie gegenüber Antisemitismus empfindlich geworden und wollen es immer wahrnehmen. Je eher also der Antisemitismus schrumpft, desto eher meinen die Leute, dass er wächst.“ Eine erstaunliche Logik: Die (Über-) Empfindsamen wollen bloß immer stärker spüren, was doch angeblich immer weniger Substanz hat. Nicht der Antisemitismus also, sondern die Sensibilität ihm gegenüber ist, folgt man der Primorschen Ableitung, falsche Projektion. Damit steht er selbst für die Tendenz, dass die Furcht in Deutschland weniger dem Antisemitismus denn dem Antisemitismusvorwurf gilt.

Eine Dame, ihr Name und eine Obsession

Von diesem Vorwurf betroffen fühlte sich jüngst auch Evelyn Hecht-Galinski; erhoben wurde er vom auf solche „Israel-Experten“ spezialisierten Henryk M. Broder. Der nämlich hatte in einem Brief an die WDR-Intendantin Monika Piel Auskunft darüber erbeten, warum in einer Hörfunksendung zum Thema Israel sich jemand ausbreiten durfte, dessen Spezialität „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“ seien. Und um nichts anderes handelt es sich bei Behauptungen wie jener, die Weltgemeinschaft hofiere „einen Staat, der über die besetzten Gebiete einen in seiner Grausamkeit fast einmaligen Belagerungszustand verhängt hat“. Hier steht das Wörtchen „fast“ zwar noch etwas schüchtern gegen die unmittelbare Relativierung des Nationalsozialismus; die Dämonisierung Israels steuert aber schon irre Höhepunkte an: „Die zionistische Ideologie und später die israelische Politik haben 1948 zum Untergang der Palästinenser beigetragen.“ Dieser „Untergang“ kann so umfassend allerdings nicht gewesen sein, denn noch immer betreibe Israel, so Hecht-Galinski im Präsens, eine Politik der „Apartheid“ gegenüber den doch angeblich längst untergegangenen Palästinensern.

Ferner sieht sie eine „jüdisch-israelische Lobby“ am Werk, die Kritiker der israelischen Politik „mundtot machen“ wolle und hinter der die deutschen Medien verschwänden. Den Vergleich der palästinensischen Autonomiegebiete mit dem Warschauer Ghetto, für den die deutschen Bischöfe Gregor Maria Hanke und Walter Mixa im März 2007 einige Kritik einstecken mussten, hält sie für „moderat“. Spätestens hier aber wird die Politik Israels mit der Raserei der Nazis unmittelbar gleichgesetzt. Derlei geht selbst der Europäischen Union zu weit, die in der Antisemitismus-Definition ihres European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) festhält, dass die Grenze zum Antisemitismus dann überschritten ist, wenn Israel dämonisiert oder mit NS-Deutschland verglichen wird oder wenn jemand behauptet, es gebe eine jüdische Kontrolle der Medien und der Politik. Wer Israel derart obsessiv verteufelt wie Hecht-Galinski, muss sich also tatsächlich begründete Sorgen machen, als antisemitisch zu gelten. Und dabei ist es nebensächlich, ob man die Tochter eines prominenten Juden ist oder nicht, ob man nun Evelyn Hecht heißt oder – wie in der Berliner Jüdischen Gemeinde kolportiert wird – erst vor einigen Jahren den Namen Galinski hinzugefügt hat. Antisemitismus drückt sich im Ressentiment, nicht in der Herkunft aus.

Henryk M. Broder bescheinigte Hecht-Galinski deshalb sehr zu Recht „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“, was ihm die derart Gescholtene prompt gerichtlich untersagen lassen wollte. Das Landgericht Köln fällte dazu Anfang September ein denkwürdiges Urteil: Zwar habe Broder durchaus das Recht, Hecht-Galinski als antisemitisch zu bezeichnen; er müsse dies aber stets unmittelbar und hinreichend begründen. Andernfalls sei seine Einschätzung als „Werturteil, bei dem die Grenze zur sog. Schmähkritik überschritten sei“, zu betrachten. Es komme, so die Urteilsbegründung, stets auf den „Sachbezug“ an. Und „ob ein solcher Sachbezug vorliegt“, könne „nur im Einzelfall anhand einer konkreten, dann zu überprüfenden Äußerung beurteilt werden“.

Im Fall von Broders Brief an die WDR-Intendantin wollte das Gericht diesen „Sachbezug“ partout nicht erkennen. Dabei hätte es genügt, der von Broder kritisierten Hörfunksendung mit dem instruktiven Titel „Ganz schön kompliziert: Reden über Israel“ zu lauschen. Diese Sendung selbst ist nämlich der „Sachbezug“. Dort verkündete Evelyn Hecht-Galinski beispielsweise, die Bundeskanzlerin halte Reden, die auch vom „israelischen Propagandaministerium“ stammen könnten, sie sprach von sechzig Jahren „ethnischer Säuberung“ durch Israel, und sie präsentierte einen symbolischen Maulkorb, den sie sich „nicht mehr umhängen“ lasse, auch wenn er „von offiziellster Seite“ komme. Es ist all dies eben jene Mischung aus der Dämonisierung des jüdischen Staates und der Imaginierung einer zionistischen Lobby (die in Deutschland Regierung und Medien im Griff habe), die Broders Verdikt hinreichend begründet, die „Tochter“ sei auf „antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten“ spezialisiert. Trotzig bekannte Hecht-Galinski in der Radiosendung: „Wenn ich als jüdische Selbsthasserin oder Antisemitin verunglimpft werde, stört mich das nicht im Geringsten.“ Und es stört augenscheinlich auch ihre Logik nicht, dass sie trotzdem einen Rechtsstreit gegen Broder anzettelte. Offenbar kann man sich auch dann erfolgreich vor Gericht gegen „Schmähkritik“ wehren, wenn man sich gar nicht geschmäht fühlt.

Das Urteil des Kölner Gerichts impliziert nun, wenn man es streng auslegt, zweierlei: Zum einen kann keine für eine Person potenziell unangenehme Beschreibung mehr formuliert werden, ohne dass diese sogleich „hinreichend“ begründet werden muss. Das aber ist das Ende jeder Polemik. Darf man nun Putin noch einen „lupenreinen Demokraten“ und Horst Mahler einen „nationalsozialistischen Antidemokraten“ nennen, wenn man dem nicht sogleich zur ausführlichen Begründung ein akademisches Elaborat beifügt? (Dies dürfte im Falle Putins natürlich um einiges schwerer sein als bei Mahler, obwohl das Verdikt dem Erstgenannten mehr missfallen dürfte als letzterem.) Zum anderen nimmt das Gericht für sich in Anspruch, die Begründung – die nun zwingend zu formulieren ist – „im Einzelfall“ zu beurteilen. So werden politische Auseinandersetzungen um den neuen Antisemitismus auch künftig dort landen, wo sie nur nach Ansicht obrigkeitsstaatlicher Antidemokraten hingehört: vor dem Kadi. Die Evidenz des Antisemitismusvorwurfs wäre dann – so die Kölner Urteilsbegründung – „aus dem Blickwinkel eines unbefangenen und verständigen Durchschnittslesers zu beantworten, der mit der Materie nicht speziell vertraut ist“. Allein: Wie es beim „Durchschnittsleser“ als Kind oder Enkel des „Otto Normalvergasers“ (Eike Geisel) mit der Unbefangenheit und Verständigkeit aussieht, wenn es um den modernisierten Antisemitismus – mithin also um die Gretchenfrage bezüglich Israel – geht, wird vom Kölner Gericht nicht ausgeführt.

Die Stellvertreterin

„Evelyn Hecht-Galinski ist die Tochter von Heinz Galinski, dem verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und des Zentralrats der Juden in Deutschland.“ So sachkundig leitete der Feuilleton-Chef der FAZ, Patrick Bahners, einen Artikel im Vorfeld des Prozesses ein, in dem er Partei für die „Tochter“ ergriff und, gegen Broder gerichtet, schrieb: „Der Antisemitismusvorwurf eignet sich zum moralischen Totschlag.“ Aus Martin Walsers „Moralkeule Auschwitz“, das zeigen nicht nur Bahners’ Zeilen, ist längst schon die „Antisemitismuskeule“ geworden, erfunden und gefürchtet von jenen, die allen Ernstes der Ansicht sind, nicht einmal eine Jüdin dürfe hierzulande „kritische Meinungsäußerungen zur israelischen Politik und Staatsräson“ (Bahners) formulieren. Diese Sorge des FAZ-Kulturchefs drückte sich dabei bereits in der Überschrift seines Beitrags überdeutlich aus: „Was darf eine Jüdin in Deutschland gegen Israel sagen?“ Schon die Fragestellung ist antisemitisch aufgeladen; sie suggeriert, dass es eine Macht gibt, die „Kritik“ an Israel der Zensur überantwortet. Mehr noch: Hinter der Schlagzeile steht die besorgte Frage, was Nicht-Juden noch zu, über und vor allem gegen Israel zu sagen bleibt, wenn angeblich nicht einmal die „Tochter“ so reden darf, wie es im autochthonen Deutschen denkt. Dabei darf sie es ja, und sie tut es allenthalben. In Deutschland ist nämlich nicht der Antisemitismus, sondern allenfalls der Antisemitismusvorwurf justiziabel.

Hecht-Galinskis juristische Bemühung, Broder die Äußerung politischer Wahrheiten zu verbieten, steht stellvertretend für das Hoffen jenes „israelkritischen“, nicht-jüdischen Mainstreams von FAZ bis taz, der sich nur zu gern hinter einer vorgeblich innerjüdischen Auseinandersetzung versteckt. So wichtig die Thematisierung der Tatsache ist, dass auch Juden sich antisemitisch exponieren können – erst recht in Zeiten gesellschaftlich höchst opportuner „Israelkritik“ –, so sehr droht dabei der entscheidende Aspekt vernachlässigt zu werden: Jüdische Antizionisten agi(ti)eren zuvörderst für ein deutsches, nicht-jüdisches Publikum, das sich daraus die jüdische Legitimation für ihr eigenes antiisraelisches Ressentiment verspricht. Die von Patrick Bahners bang gestellte Frage „Was darf eine Jüdin in Deutschland gegen Israel sagen?“ verweist keinesfalls auf eine (ausschließlich) innerjüdische Debatte. Im Gegenteil: Das höchst interessierte Publikum der „Tochter“ findet sich im Kulturteil der Frankfurter Allgemeinen ebenso wie in der Redaktion der jungen Welt, im Westdeutschen Rundfunk ebenso wie im Deutschlandfunk. Es findet sich überall dort, wo der Antisemitismus sich – noch – öffentlichkeitsscheu hinter der „Israelkritik“ und seinen jüdischen Proponenten versteckt.

In besagten Medien kann Evelyn Hecht-Galinski den Zentralrat der Juden in Deutschland als „Sprachrohr der israelischen Regierung“ bezeichnen und so das antisemitische Gerücht von der „wahren“ Loyalität der Diaspora-Juden nähren. Hier kann sie eine jüdische Medienmacht halluzinieren, schließlich sei die „deutsche Politik hinter den israelischen Medien verschwunden“. Hier kann sie irre und wirre Sätze über die weltweite jüdische „Allmacht“ formulieren wie diesen: „Überall, wo, ich muss es leider sagen, wie Tony Judt das auch schon festgestellt hat, die jüdisch-israelische Lobby mit ihrem Netzwerken am Arbeiten ist, das zieht sich heute über die ganze Welt, und dank Amerika ist die Macht so groß geworden, dass wir als europäische Juden für einen gerechten Frieden zwar eine Minderheit sind, aber immer stärker werden in der ganzen Welt.“ Hier kann sie ebenso irr und wirr ihre antisemitischen Vergleiche zwischen Israel und dem NS-Staat ziehen: „Es kann nur in ein absolutes Unglück führen, was dort passiert, weil man kann nicht ewig ein ganzes Volk unterdrücken und sich wirklich – ich muss diese Vergleiche wagen –, wir haben ja gerade erlebt, was im Zweiten Weltkrieg passiert ist und was heute passiert.“

All dies kann sie also behaupten: immer wieder und in den prominentesten politischen Medien Deutschlands. Sie hat keine Zensur und keinen Maulkorb zu befürchten. Nur eines kann Evelyn Hecht-Galinski nicht: ertragen, dass dergleichen als antisemitisch qualifiziert wird.

Ein schrecklicher Vorwurf

Eben das macht auch dem Kölner Landgericht Sorge: Der „Durchschnittsleser“ nämlich müsse annehmen, „dass jemand, der auf antisemitische Statements spezialisiert ist, auch eine antisemitische Gesinnung vertritt, weil üblicherweise nur solche Personen antisemitische Statements abgäben, die auch einer antisemitischen Geisteshaltung anhingen“. Brillant geschlossen, allein der Konjunktiv ist fehl am Platz: Wer sich antisemitisch äußert, ist ein Antisemit. Dass dabei „der Antisemitismus-Vorwurf aufgrund der damit verbundenen historischen Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus besonders schwer“ wiege und „wie kaum ein anderer geeignet“ sei, „den mit dieser Geisteshaltung in Verbindung Gebrachten in den Augen der Öffentlichkeit herabzusetzen“, steht dem gerade nicht entgegen. Denn nicht einmal mehr Antisemiten wollen als solche bezeichnet werden. Eben deswegen wird der Antisemitismusvorwurf auch als so untragbar und schrecklich empfunden, besonders von denen, die ihn am meisten verdienen.

Patrick Bahners – der geflissentlich übergeht, dass per Gericht nicht Hecht-Galinski sondern Broder der Mund verboten werden sollte – sieht also „moralischen Totschlag“ am Werk, wenn Antisemiten Antisemiten genannt werden. Y. Michal Bodemann, Soziologe in Toronto und taz-Autor in Berlin, geht sogar noch weiter: „Vor allem in Deutschland kann der Antisemitismus-Vorwurf tödlich sein, und so hüten sich viele Juden wie Nichtjuden davor, den Mund aufzumachen.“ Die zu Tode gekommenen Opfer des Antisemitismusvorwurfs benennt der Wissenschaftler nicht; ob er damit beispielsweise den Fallschirmspringer Jürgen W. Möllemann meint – den gleichwohl mehr der Vorwurf der Steuerhinterziehung denn der des Antisemitismus zerknirschte –, bleibt unerhellt. Bodemanns mit „Rufmord und rassistische Hetze“ überschriebenes Bestreben hingegen, den Opponenten des neuen Antisemitismus eine Mischung aus Rassismus, Mordlust und Einschüchterungsversuchen zu attestieren, ist offensichtlich. Mit dieser perfiden Stigmatisierung soll Broders Position diskreditiert werden. Und es soll umgekehrt Hecht-Galinskis Antisemitismus salviert werden, da die „Tochter“ doch „den Mut aufbringt, in diesem überängstlichen, feigen Milieu die israelische Politik zu kritisieren“.

Alfred Grosser, der große alte Mann der Antisemitismusverharmlosung, stieß in der FAZ ins gleiche Waldhorn. Weil sein Freund Rupert Neudeck einmal keine Räumlichkeiten von der evangelischen Kirche zur Verfügung gestellt bekam, um sein mit exaltierter Tapferkeit geschriebenes Palästina-Soli-Buch „Ich will nicht mehr schweigen“ zu bewerben, sieht Grosser eine schreckliche und gewaltige Macht am Wirken: „Hier ging es nicht um Antisemitismusbekämpfung, sondern um brutale Zensur eines unbequemen Inhalts. Die Methode hat sich bewährt.“ Sind wir schon wieder so weit?

In alledem wird der Wahn deutlich, der den Antisemitismus seit je kennzeichnet: Der Verfolger wähnt sich als Verfolgter, der nicht agiert, sondern immer nur reagiert, weil ihm der Jude respektive Zionist ja keine andere Wahl lasse. Der Einschüchterungsversuch wird dem zugeschrieben, den man per Gericht selbst einzuschüchtern versucht; es wird der eigene „Mut“ betont, die „Israelkritik“ überhaupt zu wagen – als ob dies die Ausnahme und nicht die Regel wäre. So bezieht man heute Stellung gegen den „moralischen Totschlag“, den „Rufmord“, den Antisemitismusvorwurf, denn dieser könne „tödlich sein“. Man wähnt sich in seiner Meinungsfreiheit unterdrückt und verbreitet sich gleichwohl in FAZ und taz und Deutschlandfunk. Man versteht die eigene Position als Ausdruck größter Tapferkeit und Moralität – so, wie noch jede Form des Antisemitismus sich als tapfere und moralische Tat verstand. Man lässt mit Hecht-Galinksi, Bodemann und Grosser die immer gleichen jüdischen Exponenten eine Dämonisierung und Delegitimierung Israels vorantreiben, die der immer gleiche ehemalige israelische Botschafter als diskurswürdig und deshalb mitnichten antisemitisch legitimiert.

Deutschland kann aufatmen: Nicht der Antisemitismus, nein, der Antisemitismusvorwurf wird zum Tabu.

Zu den Fotos: Links (im Uhrzeigersinn): Evelyn Hecht-Galinski, Alfred Grosser, Avi Primor, Y. Michal Bodemann. Rechts: Henryk M. Broder.

15.9.08

Romantik und Realität



Es war ein Rührstück, wie es selbst im zu Kitsch und Pathos neigenden Fußball nicht oft vorkommt: Der Auftritt des Lukas Podolski mit den Bayern bei seinem langjährigen Klub, dem 1. FC Köln, geriet für den 23-Jährigen zu einem regelrechten Triumphzug mit einer ganz besonderen Pointe. Denn als er in der Nachspielzeit das 3:0 für den deutschen Rekordmeister besorgte, wurde er dafür nicht nur von den Bayern-Fans gefeiert, sondern – nach kurzem Zögern – vom ganzen Stadion. Das dürfte in der Tat so einmalig sein, wie Podolski es hernach empfand. Und es ist zweifellos ein mehr als beachtlicher Kontrapunkt zu den dämlichen „Judas“-Rufen, mit denen üblicherweise jene Kicker bedacht werden, die mit ihrem neuen Verein gegen ihren alten spielen – zumal dann, wenn es sich bei diesem neuen Verein um den FC Bayern handelt. In Köln verehrt, nein: vergöttert man den in Gliwice geborenen und nahe der Domstadt aufgewachsenen Angreifer, und man lebt von der Hoffnung, dass er in naher Zukunft an den Rhein zurückkehrt. Podolski selbst nährt diese Hoffnung nach Kräften. Und wenn nicht alles täuscht, ist der Tag tatsächlich nicht mehr fern, an dem die katholische Metropole die Ankunft des Messias feiert wie sonst nur den Karneval.

Ob Lukas Podolski (Foto) sich mit einem neuerlichen Engagement bei dem Klub, für den er schon als Zehnjähriger gegen den Ball getreten hat, wirklich einen Gefallen täte, darf man jedoch bezweifeln. Denn abseits aller Romantik wäre ein Wiedereinstieg beim 1. FC Köln ohne Frage der ultimative Karriereknick für ihn: Der erste Bundesligameister ist seit Jahren eine klassische Fahrstuhlmannschaft, die, realistisch betrachtet, auf absehbare Zeit keinerlei internationale Perspektive hat. Ein mit reichlich Talent ausgestatteter Kicker wie Podolski würde diese Mannschaft natürlich schmücken und ihre Chancen auf einen Platz im gesicherten Mittelfeld steigern – mehr aber auch nicht. Podolskis internationale Auftritte würden sich auf die Spiele mit der Nationalmannschaft beschränken. Ansonsten wäre er beim FC der unumstrittene Star in einem allenfalls durchschnittlichen Team. Möglicherweise genügt ihm das ja; sein so sympathisches wie unprofessionelles Auftreten jenseits des Platzes – vor allem am vergangenen Samstag – spricht jedenfalls dafür.

Lukas Podolski wäre allerdings nicht der Erste, der unter der Last überbordender Erwartungen zusammenbrechen würde. Denn in Köln würde man von ihm nicht weniger als Wunderdinge verlangen. Der Klub und seine Fans haben seit jeher große Probleme damit, die extreme Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch nur zur Kenntnis zu nehmen, das heißt: der Realität ins Auge zu sehen. Nach jedem (Wieder-) Aufstieg in die Bundesliga wird sofort unvermeidlich die Frage diskutiert, wann denn mit der ersten Meisterschaft seit 1978 zu rechnen ist, obwohl der Kader, bei Lichte betrachtet, vielleicht mit Ach und Krach für den Klassenerhalt reicht. Als Christoph Daum im November 2006 erneut Trainer des 1. FC Köln wurde, bejubelten ihn die Anhänger des Vereins, als ob er den Titel gerade an den Rhein geholt hätte. Entsprechend groß war die Ernüchterung, als nicht sofort ein souveräner Durchmarsch ins Oberhaus des deutschen Fußballs gelang. Daum büßte einiges von seinem Ruf als Magier ein, blieb aber. Ob der gut 32 Jahre jüngere Podolski den auf ihm lastenden Druck auch so gut verkraften würde – einen Druck, der den bei seinem jetzigen Arbeitgeber alles in allem noch um einiges überstiege?

Vielleicht ist der FC Bayern wirklich nicht der richtige Klub für Lukas Podolski, einen Fußballer, der vor allem dann zu guter Form aufläuft, wenn ihm das Umfeld vertraut ist, er eine Art Einsatzgarantie bekommt, Platz für sein Spiel hat und nicht alle Erwartungen auf ihm lasten. Werder Bremen oder der Hamburger SV wären solche Klubs, die ihm geradezu ideale Bedingungen bieten würden. Der 1. FC Köln hingegen ist es sicher nicht. Auch wenn Fußballromantiker das anders sehen und schon sehnsüchtig auf das nächste, das finale Rührstück warten.

10.9.08

Die Logik der Feinde

„Amerika hat, aus welchen Motiven auch immer, Europa von völliger Versklavung gerettet. Die Antwort ist heute überall, nicht bloß in Deutschland, eine weit verbreitete und tief gehende Amerika-Feindlichkeit. Über deren Ursache hat man sich schon viel den Kopf zerbrochen. Ressentiment, Neid, aber auch Fehler, die von der amerikanischen Regierung und ihren Bürgern gemacht werden, spielen eine Rolle. Überraschend ist der Umstand, dass überall dort, wo der Anti-Amerikanismus sich findet, auch der Antisemitismus sich breit macht. Die durch den Niedergang der Kultur bedingte allgemeine Malaise sucht nach einem Schuldigen, und aus den oben angedeuteten und anderen Gründen findet sie die Amerikaner und in Amerika selbst wieder die Juden, die angeblich Amerika beherrschen. Die Demagogen von rechts aber, bis zu einem gewissen Grad auch die von links, haben längst erkannt, dass sich hier ein fruchtbares Feld findet, und nützen die Lage in zunehmendem Maße aus.“ (Max Horkheimer, Mai 1967)


VON CHRISTIAN J. HEINRICH

Um an die Opfer der Terroranschläge vom 11. September 2001 zu erinnern, wird die amerikanische Botschaft in diesem Jahr gemeinsam mit der Jüdischen Gemeinde und der Stiftung Neue Synagoge in Berlin eine Gedenkfeier veranstalten. Eine sehr gute und sehr notwendige Sache, sollte man meinen. In einem Editorial des Tagesspiegel gab Malte Lehming unter der flapsigen Überschrift „Sind so viele Opfer“ unlängst jedoch zu bedenken, es fielen, erstens, inzwischen mehr Muslime dem Terror zum Opfer als Christen und Juden, und die geplante Gedenkfeier suggeriere, zweitens, „was Antisemiten und Antiamerikaner gleichermaßen behaupten: Zwischen Amerika und Israel gibt es eine ewige Freundschaft, eine Art unheilige Allianz zum Nachteil der Araber, gesteuert durch mächtige jüdische Lobbygruppen in den USA“. Lehming betonte zwar, dies alles sei falsch und oft widerlegt worden; dennoch machte er das Hauptproblem recht eindeutig bei der Botschaft und der Jüdischen Gemeinde aus: „Die Post-festum-Solidarität amerikanischer und jüdischer Opfer impliziert nun, dass Amerika für die Sünden Israels tatsächlich büßen kann. Sie folgt der Logik der Feinde.“ Schließlich forderte er: „Erst denken, dann gedenken!“

Auf diesen Beitrag des Leiters des Meinungsressorts beim Tagesspiegel reagierte der amerikanische Botschafter in Deutschland, William R. Timken, mit einem Leserbrief. „Wir sind jeder Organisation dankbar, die der Botschaft geholfen hat, der Opfer der Terroranschläge vom 11. September zu gedenken“, stellte er darin klar. Damit umschrieb der Diplomat freundlich das Problem, dass es – obwohl zu dieser Gedenkfeierlichkeit Vertreter verschiedenster Nationen und Religionen eingeladen sind und einige den Termin auch pflichtschuldig absolvieren werden – eben vor allem Amerikaner und Juden sind, denen es ein Bedürfnis ist, einen Rahmen für das Gedenken zu schaffen. Warum? Weil es ihnen ein wirkliches Anliegen ist. Weil ihre Trauer mit der Erkenntnis verbunden ist, dass der Terror im Namen Allahs eben nicht wahllos seine Opfer aussucht, sondern sich gegen jene richtet, die mit dem Westen und mit westlichen Werten identifiziert werden. Symbolisch dafür stehen Amerika und Israel – und (aus guten, also schlechten Gründen) weit weniger Europa, das sich erfolgreich bemüht, die politische Kontinentaldrift zu befördern.

Wenn Malte Lehming meint, es werde doch ganz allgemein „im Westen an jedem 11. September der Opfer der Anschläge gedacht“, dann ist dieser „Westen“ nicht mehr als eine Schimäre. Lehming ignoriert die Phrasenhaftigkeit der ersten Unterstützungsbekundungen nach den Anschlägen, wie sie sich etwa in Gerhard Schröders Parole von der „uneingeschränkten Solidarität mit den USA“ manifestierte. Er ignoriert das kaum zu überhörende deutsche Raunen über die „wahren“ Hintergründe der Attacken (oder doch wenigstens über die „tatsächlichen“ Ursachen des Terrors). Er ignoriert, dass es weder muslimische noch deutsche Organisationen und Initiativen für nötig erachten, in Erinnerung an die Opfer der Anschläge vom 11. September Gedenkveranstaltungen zu organisieren. Es bleibt – und das spricht Bände über die politischen Verhältnisse hierzulande – eben doch Amerikanern und Juden in Deutschland überlassen, genau dies zu tun. Das geplante Gedenken findet Lehming also falsch; er macht es aber nicht den gedanken- und gedenklosen Deutschen zum Vorwurf, sondern jenen, denen die Opfer von Nine-Eleven nicht gleichgültig sind.

Mehr noch: Obwohl die Berliner Veranstaltung sich explizit auf die Terrorattacken vor sieben Jahren bezieht, empfiehlt Lehming einen umfassenderen Blick, denn „seit langem sterben durch Anschläge militanter Islamisten mehr Muslime – wie jüngst in Algerien gezeigt und ständig im Irak und Afghanistan – als Juden oder Christen“. Das stimmt zweifellos, nur: Was will er damit erklären? Lehming glaubt, der Angriff vom 11. September 2001 habe „weder Frauen noch Juden, weder Muslimen noch Christen“ gegolten, „sondern der Freiheit, der Demokratie, der Emanzipation und dem individuellen Streben nach Glück“. Das ist wahr und falsch zugleich: Es wurden Amerikaner als Amerikaner und Juden als Juden angegriffen; es traf konkrete Individuen und nicht nur abstrakte Werte. Der islamische Terror richtet sich grundsätzlich gegen alles als „jüdisch“ oder „amerikanisch“ Verstandene, gerade weil seine Proponenten mit Juden und Amerikanern Freiheit, Demokratie, Emanzipation und individuelles Glücksstreben assoziieren. Er richtet sich aber niemals gegen Muslime als Muslime, sondern er trifft sie genau dann, wenn sie nicht als „wahre“ Gläubige, sondern als „verwestlicht“ betrachtet werden.

Weiter hieß es in Lehmings Editorial: „Was macht den 11. September 2001 zu einem speziell jüdischen Trauertag?“ Diese Frage geht an der geplanten Veranstaltung, die ja zuvörderst von der amerikanischen Botschaft getragen wird, irritierend weit vorbei. Gleichwohl: Der 11. September ist nicht „speziell“, aber eben auch ein jüdischer Trauertag. Denn Nine-Eleven war ein antisemitisch motivierter Anschlag. Und das wird auch nicht dadurch dementiert, dass die wenigsten Opfer Juden waren, sondern vielmehr in der Motivation und Begründung von Al-Qaida besonders evident: Der Terror richtete sich erklärtermaßen gegen New York als „Zentrum des Weltjudentums“, er richtete sich gegen das „jüdische Finanzkapital“, er richtete sich gegen die amerikanische Unterstützung Israels. Die Djihad-Bewegung von den Moslembrüdern bis zu Al-Qaida ist ideologisch nicht nur am Rande, sondern im Grunde antisemitisch. Antisemitismus, so darf eine Basisbanalität in Erinnerung gerufen werden, findet sich eben nicht nur dort, wo tatsächlich Juden getroffen werden, sondern überall, wo Juden vermutet werden und gemeint sind. Eben das unterschlägt Lehming in seiner Polemik gegen die Berliner Jüdische Gemeinde gänzlich.

Diese reagierte in einer Presseerklärung denn auch recht ungehalten auf seinen Kommentar: „Jetzt wird die zionistische Weltverschwörungsthese hervorgeholt, weil die Jüdische Gemeinde zu Berlin gemeinsam mit der US-Botschaft der Terroranschläge des 11. September gedenkt.“ Lehming polterte daraufhin wenig einsichtig, dafür aber umso wuchtiger zurück: „Pressefreiheit ist ein hohes Gut. Man sollte verantwortungsvoll mit der Kritik an dieser Freiheit umgehen.“ Dabei hat die Jüdische Gemeinde mit ihren Einwänden gegen das Editorial völlig Recht, insbesondere in Bezug auf Lehmings Ansicht, die geplante Gedenkveranstaltung suggeriere, „was Antisemiten und Antiamerikaner gleichermaßen behaupten“, sie zementiere folglich entsprechende Vorurteile, ja, die „Post-festum-Solidarität amerikanischer und jüdischer Opfer“ impliziere, „dass Amerika für die Sünden Israels tatsächlich büßen kann“. Daraus leitet Lehming für in Deutschland lebende Juden Ratschläge her, wie sie selbst am besten dem antisemitischen Ressentiment entgegentreten könnten: indem sie sich nämlich nicht so verhalten, wie es der antisemitischen Vorstellung entspricht. Andernfalls folgten sie „der Logik der Feinde“. Der Tagesspiegel-Redakteur kritisiert auf diese Weise weniger die Protagonisten des Ressentiments als vielmehr die Zielobjekte der antisemitischen Projektion, da diese ja höchstselbst die Manifestierung des Ressentiments betrieben. So ist Lehming gefährlich nahe an der These, Juden seien für den Antisemitismus durch ihr konkretes Verhalten selbst (mit)verantwortlich. Er ist es – um mit seinen Worten zu sprechen – „unabsichtlich zwar, aber das macht die Sache nicht besser“.

9.9.08

Im Namen des Durchschnittslesers



Es ist schon ein komisches Urteil, das das Kölner Landgericht da vergangene Woche im Rechtsstreit zwischen Evelyn Hecht-Galinski und Henryk M. Broder gesprochen hat. Kurz zusammengefasst, besagt es: Broder darf die Tochter des verstorbenen früheren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, antisemitisch nennen, wenn er es begründet. Eine solche Begründung habe in seinem auf der Achse des Guten veröffentlichten Beitrag jedoch gefehlt. Fast alle großen deutschen Zeitungen berichteten über die Entscheidung in der Domstadt, doch der Tenor fiel völlig unterschiedlich aus: Für einige musste Broder eine Niederlage einstecken, andere schrieben von einem Sieg, und manche sahen ein Unentschieden. Gemessen daran, dass Hecht-Galinski (Foto, rechts) dem Publizisten (links im Bild) seine Einschätzung grundsätzlich untersagen lassen wollte, war es wohl eher sie, die als Verliererin aus dem von ihr selbst angestrengten Prozess hervorging. Dass sie das anders sah, ist ihr gutes Recht; Weltfremdheit ist schließlich nicht strafbar.

Das Urteil hat allerdings noch weiterreichende Folgen als die unmittelbar juristischen. Denn wenn es Bestand haben sollte, stirbt die literarische Gattung Polemik einen qualvollen Tod. Polemik ist gehobene Streitkunst; sie spitzt einen Sachverhalt lustvoll-pointiert zu und ist dabei mit Absicht unsachlich. Ihre Lektüre setzt einen informierten, mündigen und im besten Sinne des Wortes selbstbewussten Konsumenten voraus. Es gibt hierzulande nur ganz wenige brillante Polemiker, und Broder ist ohne Zweifel einer von ihnen. Wer seine Texte liest, erwartet, was ihn erwartet. Das Kölner Landgericht jedoch sah das anders und berief sich auf einen – nie und nirgends näher definierten, aber offenbar für vollständig dumm gehaltenen – „Durchschnittsleser“, der, wenn man ihm Belege vorenthalte, gleichsam automatisch genasführt werde. Broder hingegen sprach diesem „Durchschnittsleser“ deutlich mehr Aufgeklärtheit zu, indem er schrieb: „Jeder Kölsche Jeck mit zwei Promille im Blut würde sogar an Weiberfastnacht erkennen, dass Frau EHG eine hysterische, geltungsbedürftige Hausfrau ist, die für niemanden spricht außer für sich selbst und dabei auch nur Unsinn von sich gibt. Ihre Spezialität sind antisemitisch-antizionistische Gedankenlosigkeiten, die zurzeit mal wieder eine kurze Konjunktur haben.“

Folgt man der Sichtweise des Gerichts, muss demnächst vermutlich jede zugespitzt formulierte Behauptung, jede nonkonforme These, jede luzide Erkenntnis mit einem ganzen Fußnotenapparat versehen werden, wenn ein Gerichtsverfahren vermieden werden soll. Das ist ein intellektuelles Armutszeugnis. Die Kunst des formvollendeten und literarisch wertvollen Beleidigens, sie wird in Deutschland einfach nicht geschätzt. Stattdessen wird eine gezielte und unzweifelhaft erkennbare Polemik allzu oft mit einem Angriff auf das Persönlichkeitsrecht oder gar die Menschenwürde verwechselt und die Jurisprudenz angerufen. So hat es auch Evelyn Hecht-Galinski gehandhabt. Das ist insofern bemerkenswert, als sie selbst keine der zahlreichen Gelegenheiten auslässt, um ihre abstrusen Verschwörungstheorien und perversen Vergleiche Israels mit dem Naziregime öffentlich in markige Worte zu kleiden – um sogleich vernehmlich „Maulkorb“ und „Israel-Lobby“ zu keifen, wenn ihr jemand auf die Schliche kommt und ihre desaströsen Ergüsse das nennt, was sie sind. Hecht-Galinski teilt aus, kann aber nicht einstecken, ganz im Gegensatz zu Broder.

Der Streit der beiden hat in den Medien ein beträchtliches Echo erfahren; keine größere deutsche Tageszeitung, die sich nicht in irgendeiner Form zu ihm geäußert hätte. Die meisten ergriffen dabei implizit oder explizit Partei für Hecht-Galinski. Am weitesten gingen Patrick Bahners in der FAZ und Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung:* Beide warfen Broder vor, mit dem Antisemitismus-Vorwurf eine Kritik an Israel verhindern und „Israelkritiker“ einschüchtern zu wollen. Beide rügten seinen polemischen Ton. Beide fanden es de facto schlimmer, jemanden als Antisemiten zu bezeichnen, als Antisemit zu sein. Und beide drückten sich – wie auch die Kölner Richter – vor der Beantwortung der entscheidenden Fragen: Hat Broder in der Sache Recht oder nicht? Wo hört eine zulässige Kritik an Israel auf, und wo fängt Antisemitismus an? Und ist Judenhass auch unter Juden möglich?

„Das ist inzwischen ein eingespieltes Muster der nichtjüdischen deutschen Debatte über Israel: Man thematisiert Stilfragen und strickt an der Legende von der Antisemitismuskeule, die angeblich alle mundtot macht“, schrieb Clemens Wergin im mit Abstand besten Kommentar zur Causa Hecht-Galinski versus Broder. Die Behauptung, Kritik an Israel sei in Deutschland nicht möglich, „ist aber inzwischen selbst zu einer Keule geworden, mit der unliebsame Kritik an der Kritik an Israel weggewischt wird“, befand er. Und weiter: „Eine ‚freie Debatte’ wäre nach Meinung der Bahners und Steinfelds wohl erst dann gegeben, wenn man Israel kritisieren kann, ohne überhaupt Widerspruch zu ernten.“ Dass das Image Israels in Deutschland so schlecht sei wie in kaum einem anderen Land Europas, spreche jedoch nicht gerade dafür, dass der jüdische Staat besonders geschont wird. Weil es schwer sei, „die verworrenen Äußerungen Hecht-Galinskis über Israel und die weltweite ‚jüdische Lobby’ zu verteidigen, was sie möglicherweise gern täten“, betrieben Steinfeld, Bahners und andere „das, was man im Englischen ‚character assassination’ nennt“, urteilte Wergin. „Und sie begeben sich auf das Gebiet der vorgeschobenen Gründe und raunenden Behauptungen. Aufklärung sieht anders aus. Es wird aber gänzlich zur Heuchelei, wenn man Broder erst persönlich diffamiert, um hernach die Verluderung der deutschen Debattenkultur zu beweinen.“

Es ist darüber hinaus bezeichnend, dass kaum ein Kommentator die Arbeitsdefinition des EUMC (European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia) zum Antisemitismus heranzog, um Hecht-Galinskis Äußerungen und damit auch Broders Einschätzung zu beurteilen. Der Grund liegt auf der Hand: Nach dieser Definition, die den EU-Staaten eine offiziöse Richtschnur sein soll, werden unter anderem der Vergleich Israels mit dem Nationalsozialismus, die Dämonisierung des jüdischen Staates, der Vorwurf, Juden verhielten sich zu Israel loyaler als gegenüber den Staaten, in denen sie leben, sowie die Behauptung einer jüdischen Kontrolle der Medien und Politik als antisemitisch eingestuft – und damit fraglos auch Evelyn Hecht-Galinskis Statements. Als prominente jüdische Kronzeugin hätte sie also ausgedient. Und das wollen in Deutschland nur wenige – schließlich weiß selbst der Durchschnittsleser am besten, wer Antisemit ist. Und vor allem: wer nicht.

* Thomas Steinfeld: Unter Lautsprechern. Die neuen Dissidenten und ihr Kampf gegen die Vernunft, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. September 2008, Seite 11 (nur Printausgabe).

6.9.08

E pluribus unum (II)



Die Dialektik von Einheit und Differenz. Zur Diskussion über Migration, Multikulturalismus und Integration in Amerika und Europa (Teil II*)

VON SEBASTIAN VOIGT


Das Pluralismusprinzip und die jüdische Einwanderung nach Amerika

Die Geltung des Pluralismusprinzips in den Vereinigten Staaten soll nun anhand der jüdischen Einwanderung dargelegt werden. Doch zunächst einige allgemeine Zahlen zur Immigration: Zwischen 1820 und 1914 kamen über 33 Millionen Menschen nach Amerika, darunter etwa fünf Millionen Deutsche, 4,5 Millionen Iren und zwei Millionen Juden. Nach einer ersten Welle von deutschsprachigen Juden seit den 1820er Jahren waren es im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vor allem Juden aus Osteuropa, die vor Armut und Antisemitismus nach Übersee flohen.

Die Geschichte der Juden in Amerika ist im Großen und Ganzen eine Erfolgsgeschichte. Als Gruppe gelang ihnen ein immenser sozialer Aufstieg. Viele engagierten sich immer wieder für andere Minderheiten und kämpften für die Aufrechterhaltung der Religionsfreiheit. Die amerikanischen Verhältnisse führten jedoch auch zu einer grundlegenden Veränderung des Judentums. Viele Rabbiner klagten, dass die Juden nicht mehr in die Synagogen gingen und sich lieber den weltlichen Genüssen hingäben. Es entstand ein Reformjudentum, das eine liberale Auslegung des Glaubens propagierte, den Gottesdienst in englischer Sprache abhielt und den Glauben mehr und mehr kulturalisierte und als Privatangelegenheit betrachtete. Das führte dazu, dass immer wieder über die Stellung der Juden in der amerikanischen Gesellschaft diskutiert wurde. Konnten sie Juden bleiben und zugleich Amerikaner werden? Oder mussten sie ihr Judentum aufgeben, um sich gänzlich zu integrieren?

Melting Pot oder Cultural Pluralism?

Diese Debatte spitzte sich nach dem Ersten Weltkrieg zu. Es war die Zeit des Erstarkens fremdenfeindlicher Bewegungen und der Höhepunkt der so genannten Amerikanisierungsbewegung. Innerhalb der Diskussion prallten paradigmatisch zwei Positionen aufeinander, die bis heute die Pole der Debatte ausmachen: Melting Pot und Cultural Pluralism. Der Begriff Melting Pot (Schmelztiegel) geht zurück auf den Titel eines 1908 in Washington D.C. uraufgeführten Theaterstücks von Israel Zangwill, einem in London aufgewachsenen Juden, dessen Eltern aus Osteuropa kamen und später nach Amerika gingen. Der Protagonist des Stücks, David Quixano, ist als russischer Jude beim Pogrom in Kishinev gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen und nach Amerika geflohen. In New York lernt er Vera kennen, die (christliche) Tochter eines russischen Grafen, der für das Massaker verantwortlich ist. Gegen alle Widerstände heiraten sie am Schluss und symbolisieren dadurch die gelungene Verschmelzung. Der Melting Pot war somit gewissermaßen ein Symbol für die Produktivität von Mischungsverhältnissen. Zangwill sah in Amerika das Land der Zukunft, in dem Juden frei von antisemitischer Verfolgung leben können. In einem gewissen Sinn ist es außerdem das Land der Heimatlosigkeit, und somit sind dort sozusagen alle Menschen Juden. Zangwill schrieb: „Was ist der Ruhm von Rom und Jerusalem, wo alle Nationen und Rassen sich zum Gottesdienst versammeln und zurückblicken, verglichen mit der Pracht Amerikas, wo alle Rassen und Nationen eintreffen, um zu arbeiten und vorwärts zu blicken?“

Als Gegenbild zum Melting Pot formulierte Horace Kallen kurz nach dem Ersten Weltkrieg sein Konzept des Cultural Pluralism. Zu dieser Zeit wurde der Assimilationsdruck auf die Einwanderer immer stärker. Kallen suchte nach einem Weg, der es den Einwanderern erlaubte, an ihrer eigenen Kultur und ihren eigenen Traditionen festzuhalten. Diesen Weg fand er im Hyphenated-American (Bindestrich-Amerikaner). Er sah dabei keinen Widerspruch zwischen der Loyalität zu Amerika, die über einen Bezug auf abstrakte politische Werte hergestellt werde, und einer Konservierung der kulturellen Herkunft.

Die Aktualität der Diskussion

Die amerikanische Gesellschaft ist ein Beispiel für die gelungene Integration völlig unterschiedlicher Einwanderergruppen. Sie ist es bis heute und wird es aller Voraussicht nach bleiben. Die Struktur der amerikanischen Gesellschaft erfordert dabei die Zurückdrängung der Religion aus der öffentlichen Sphäre. Amerika ist eine Gesellschaft, die stark auf Gruppenrechte Rücksicht nimmt, um die Tyrannei der Mehrheit zu verhindern. Ein affirmativer Bezug auf die eigenen kulturelle und ethnische Herkunft ist deshalb weit verbreitet. Das ist – im Unterschied zu Europa – aber kein Hindernis für eine erfolgreiche Integration. Denn die kulturelle Differenz wird nicht als Gegensatz zum amerikanischen Selbstverständnis begriffen, sondern als dessen integraler Bestandteil. Der Integrationsprozess von Einwanderergruppen folgt meist einem bestimmten Schema, an dessen Ende eine Art Folklorisierung der kulturellen Herkunft steht. Im März habe ich mir die St. Patricks Parade in Morristown, New Jersey angesehen. An diesem Tag sind alle Irish, tragen grüne T-Shirts und trinken Guinness. Besonders stolz sind diejenigen, die irische Vorfahren haben. Dies hindert aber indisch-amerikanische Familien nicht daran, ebenfalls „Proud to be Irish“-T-Shirts zu tragen und begeistert mit Irlandfahnen zu wedeln, wenn die Marching Band mit ihren Dudelsäcken vorbeizieht.

Dieses Beispiel soll verdeutlichen, dass die Betonung der ethnischen und kulturellen Differenz ein Bestandteil des gelungenen Integrationsprozesses ist und kein Hindernis. Differenz wird also integrativ aufgefasst. In neueren Diskussionen ist oft von voluntary affilation die Rede, einer freiwilligen Verbindung, die jederzeit wieder aufgelöst werden kann. Kulturelle Differenz, die auf Freiwilligkeit beruht, wird hier als Bereicherung einer multikulturellen Gesellschaft verstanden, nicht als Zwangsverhältnis, dem sich das Individuum zu unterwerfen hat. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn es eine klare, von allen geteilte Grundlage des Selbstverständnisses gibt, die in Amerika in den Werten der Gründungsdokumente besteht. Dies lässt eine weitgehende Akzeptanz von kultureller und ethnischer Differenz zu und macht Amerika zu einer der multikulturellsten Gesellschaften der Welt. Gerade das kennzeichnet ihren distinkten Charakter.

Der Multikulturalismus in Europa und die Aporien des Universalismus

In Europa hingegen dient der Bezug auf den Multikulturalismus nicht selten zur Legitimation einer barbarisch-religiösen Praxis. Diese Praxis wird zumeist nicht kritisiert, denn sie sei, so heißt es oft, etwas „Anderes“, etwas „Fremdes“, weshalb eine Kritik an ihr „eurozentristisch“ sei. Das verweist auf eine Aporie. Der Gedanke des Universalismus, aber auch der Gedanke an Minderheitenrechte und an das Recht auf Differenz entstammen einer spezifisch philosophischen Tradition, nämlich der Aufklärung. Und diese ist eine genuin westliche Errungenschaft. Ein Bezug darauf setzt sich somit zwangsläufig dem Vorwurf des Eurozentrismus aus. Zugleich ist dieser Bezug schlicht alternativlos. In der westlichen Ideengeschichte gibt es unterschiedliche Traditionen, die etwas vereinfachend französische und angelsächsische Aufklärung genannt werden können. Bis heute wirken sich diese Traditionen auf die Strukturen der jeweiligen Gesellschaft aus, und sie zeigen sich vor allem im unterschiedlichen Umgang mit der Religion. Während sich die französische Aufklärung durch eine vehemente Kirchenfeindschaft auszeichnet – was sich in entsprechenden Handlungen während der Französischen Revolution manifestierte –, ist die angelsächsische durch einen pragmatischen Umgang mit Religion gekennzeichnet. Sie durchtrennte die Verbindung zwischen Transzendenz und Vernunft nicht. Glaube und Ratio erschienen nicht als sich ausschließende Gegensätze. Vielmehr wurde der Glauben als notwendiges moralisches Fundament angesehen. Diese Auffassung findet sich sowohl bei britischen Denkern wie Locke als auch bei den amerikanischen Federalists.

In Frankreich führte die enge Verbindung zwischen der Kirche und dem absolutistischen Staat zu einer kompromisslosen Feindschaft der Revolutionäre, während es in Amerika niemals eine Staatsreligion gab und die politische und die religiöse Sphäre somit nicht zusammenfielen. Dieser Unterschied wirkt sich bis heute hinsichtlich der Bedeutung der Religion in der und für die Gesellschaft aus. So ist die Zahl an Menschen, die regelmäßig Gottesdienste besuchen, in Amerika wesentlich höher als in Frankreich oder den meisten anderen westeuropäischen Staaten. Ebenso ist der Anteil derjenigen viel größer, die sagen, Gott spiele eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Dies verweist auch auf den Unterschied zwischen dem französischen Laizismus und der spezifischen Verfasstheit des amerikanischen Gemeinwesens mit seiner Ambivalenz der Momente von Religiösität und Säkularität, die sich an unterschiedliche Sphären heften.

Das französische Beispiel

Deutlich werden die Differenzen auch am Beispiel der Emanzipation der Juden. Frankreich war das Land, das als erstes die rechtliche Emanzipation der Juden ermöglichte, jedoch in einer ganz bestimmten Weise: 1791 fand in der Assemblé Nationale eine Diskussion über diese Frage statt, in der der Abgeordnete de Tonnere den berühmten Satz „Den Juden als Volk nichts, als Individuen alles“ äußerte. Mit anderen Worten: Die Juden wurden emanzipiert; sie konnten französische Staatsbürger werden, sofern sie bereit waren, ihre Religion aufzugeben. Dieses spezifische Verständnis von Republikanismus kommt in dem Satz „La République une et indivisible“ zum Ausdruck. Damit einher geht ein Zwang zur Assimilation und die Nichtgewährung von Gruppenrechten. Bis heute wird die ethnische Herkunft nicht vom französischen Staat erfasst, und Nicolas Sarkozy war der erste Präsident, der Affirmative Action-Programme nach amerikanischen Vorbild forderte, was aber die Anerkennung kultureller und ethnischer Differenzen sowie der Existenz von Minderheiten in der Gesellschaft voraussetzt.

Die französische Form der Emanzipation und die Entstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft war aus der Sicht religiöser Juden eine Katastrophe, weil sie notwendigerweise schmerzhafte Veränderungen des Glaubens mit sich brachte. Die Schärfe der Auseinandersetzung zeigte sich an der Einberufung des großen Sanhedrin durch Napoleon im Jahr 1806. Er legte führenden Rabbinern und säkularen jüdischen Gelehrten einen Katalog mit zwölf Fragen vor, in denen es darum ging, ob Juden mehrere Frauen haben dürfen. Es ging um das Scheidungsrecht und vor allem um die Frage, ob es Juden erlaubt sei, Christen zu heiraten, ohne dass diese konvertieren müssen. Es ging um Fragen der Berufe, des Wuchers und der Vereinbarkeit des jüdischen Religionsgesetzes mit den säkularen Gesetzen des französischen Staates.

Die Veränderungen des Judentums als Beispiel für die noch ausstehende Entwicklung des Islam?

Die Lektüre dieses Fragenkatalogs erinnert stark an die aktuellen Diskussionen über Einwanderungstests. Das führt zu der Frage, inwiefern die Veränderungen, die das Judentum als Religion durchgemacht hat, als Beispiel für im Islam noch ausstehende Entwicklungen herangezogen werden können. Unbestreitbar war die Situation, in der sich das Judentum befand, historisch eine völlig andere als die Situation des Islam heute. Die Juden waren eine Diaspora-Bevölkerung, die einzige nichtchristliche Minderheit in christlichen Staaten. Dies brachte die Notwendigkeit mit sich, eine Aufteilung der Sphären vorzunehmen: Die Einhaltung der religiösen Gesetze wurde aus der öffentlichen Sphäre verbannt und in den privaten, familiären Bereich verlagert. Bezeichnend hierfür ist ein aus dem Aramäischen stammender Satz, der diesen Spagat zum Ausdruck bringt. Er lautet „Dina de malkhuta dina“ (das Gesetz des Staates ist das Gesetz) und meint, dass die Juden angehalten sind, den Gesetzen des jeweiligen Staates Folge zu leisten, in dem sie leben.

Die diasporische Konstitution führte immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Judentums und zu ständigen Diskussionen über den Status der Juden in der Gesellschaft. Für auftretende Probleme wurden meist pragmatische Lösungen gefunden, was sich am Beispiel des Buchdrucks veranschaulichen lässt: Trotz der Sakralität der hebräischen Buchstaben und des Buches untersagten die Rabbiner den Buchdruck nicht gänzlich. Es wurde unterschieden zwischen religiösen Texten, deren Verbreitung weiterhin Restriktionen unterlag, und säkularen Texten, die vervielfältigt werden durften. Das verdeutlicht die Differenz zum Islam. In islamischen Ländern wurde der Buchdruck erst mit 300 Jahren Verspätung eingeführt. Texte durften nur in aufwändiger Arbeit von Kalligrafen kopiert werden.

Der Buchdruck ist aber nur ein Beispiel dafür, dass die Entwicklung im Westen und im Orient zu einem bestimmten Zeitpunkt auseinander gedriftet sind. Obwohl der Islam dem Christentum zunächst in vielerlei Hinsicht überlegen war, hat sich diese Überlegenheit nicht konserviert. Im Gegenteil: Nach der Reformation, der Erfindung des Buchdrucks und der Renaissance – also den Grundlagen der Aufklärung – ging die weitere Entwicklung mit verheerenden Folgen für die Menschen in den islamischen Staaten vonstatten. Die Schärfe der Misere wird im Arab Human Development Report deutlich, der von der UN veröffentlicht wurde. Er weist die alle gesellschaftlichen Bereiche durchziehende Krise in den arabischen Ländern nach. Die reale Unterentwicklung der islamischen Staaten steht jedoch in einem Gegensatz zum subjektiven Gefühl der Überlegenheit, das sich aus einer mythologisierten Betrachtung der „goldenen“ Vergangenheit speist. Die Niederlagen gegen den Westen – wie sie sich unter anderem im Kolonialismus vollzogen – und gegen Israel widersprechen diesen Mythen, weshalb sie immer wieder mit Verschwörungstheorien erklärt werden. Sie kehren als permanente narzisstische Kränkung wieder. Statt über die internen Probleme offen und kontrovers zu diskutieren, werden äußere Einflüsse für die eigenen Misere geltend gemacht.

Das kritische Betrachten der eigenen Gesellschaft, der eigenen Lebenswelt ist ein Produkt westlichen Denkens, der Aufklärung, deren Einforderung in islamischen Ländern nicht selten als „eurozentristisch“ diffamiert wird. Dieses kritische Betrachten ist jedoch ohne Alternative. Es bedarf deshalb einer offenen Diskussion über die Gründe für die offensichtliche Unterlegenheit der islamischen Länder und eines Abwägens exogener und endogener Faktoren dafür.

Die Notwendigkeit einer historischen und komparativen Betrachtungsweise

Für die muslimischen Minderheiten in Europa stellen sich heute ähnliche Fragen wie für die Juden bei der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft. Sicherlich ist der Kontext ein anderer und die Situation nicht ohne Weiteres übertragbar – nicht zuletzt deshalb, weil es viele mehrheitlich islamische Staaten gibt, in denen Religion und Politik scheinbar unauflöslich miteinander vermischt sind, weshalb es für Muslime viel weniger Grund für die Trennung der unterschiedlichen Sphären gibt. Dennoch kann eine historische Betrachtung ein erkenntnistheoretisches Potenzial in sich bergen, gerade weil auf religionsphilosophischer Ebene starke Affinitäten zwischen dem Islam und dem Judentum vorhanden sind.

Eine Auseinandersetzung mit der Konstitution der amerikanischen Gesellschaft in Bezug auf Fragen der Integration ist hierzulande deshalb sinnvoll, weil die Bundesrepublik genau vor den Problemen steht, die in klassischen Einwanderergesellschaften seit langem diskutiert und ausgefochten werden. Zumindest Westdeutschland ist längst eine Einwanderungsgesellschaft geworden. Die Fragen nach dem Status von Minderheiten in der Gesellschaft, nach der Vereinbarkeit von kulturellen und religiösen Eigenheiten mit den staatlichen Gesetzen und nach Integration und Integrationsunwilligkeit sind typische Fragen, die sich in derartigen Situationen stellen. Sich dies zu verdeutlichen, kann helfen, die Debatte auf eine Ebene zu verlagern, die sich jenseits von Rassismus und Kulturrelativismus bewegt.

* Zum ersten Teil: Bitte hier klicken.

3.9.08

E pluribus unum (I)

Der folgende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Leipziger Historiker Sebastian Voigt am 18. August dieses Jahres in Köln auf einer Vortragsveranstaltung zum Thema „Integrationsdebatten – zwischen Einheit und Differenz“ gehalten hat. Er wird auf diesem Weblog in zwei Teilen publiziert: Der erste Teil folgt gleich im Anschluss, der zweite am 6. September. Der Autor ist Verfasser des Buches Die Dialektik von Einheit und Differenz. Über Ursprung und Geltung des Pluralismusprinzips in den Vereinigten Staaten von Amerika (Berlin 2007) sowie verschiedener Texte zum Thema. Lizas Welt bedankt sich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.


Die Dialektik von Einheit und Differenz. Zur Diskussion über Migration, Multikulturalismus und Integration in Amerika und Europa (Teil I)

VON SEBASTIAN VOIGT


Die europäische Ignoranz gegenüber Amerika

Zunächst gilt es, einige grundlegende Charakteristika der amerikanischen Gesellschaft aufzuzeigen, die sie fundamental von den meisten europäischen unterscheidet. Diese unter das Schlagwort American Exceptionalism zu fassenden Aspekte stoßen in Europa und besonders in Deutschland auf eine weit verbreitete Ignoranz. Amerika kann also mit gutem Recht als terra incognita im europäischen Bewusstsein bezeichnet werden. Der Fokus wird dennoch nicht auf dem Antiamerikanismus liegen, auch wenn man der Feindschaft gegen Amerika als dem Symbol der Moderne und damit einhergehend der Feindschaft gegen Liberalismus, gegen die Werte der Aufklärung, immer wieder in Alltagssituationen begegnet.

Zwei kurze Beispiele: Vor kurzem war ich gezwungen, an einem Kneipentisch ein Gespräch darüber mit anzuhören, dass es Deutschland endlich gelingen müsse, sich von der „US-Diktatur“ zu befreien. Irgendwie habe ich mir dann die amerikanischen Truppen zurückgewünscht, die nach der Befreiung in Westdeutschland stationiert waren. Zweites Beispiel: Auf dem Weg zur Arbeit kam ich an einem sehr großen Werbeplakat der Firma Bionade vorbei, auf dem stand: „Holunder statt Blackberry“. Die Puristen des Vereins deutsche Sprache e.V.* dürfte dies ebenso freuen wie die Nazis, die eine Zerstörung der deutschen Kultur durch Anglizismen fürchten. Dass die Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft nach der Zerschlagung des Naziregimes eine immense Zivilisierung darstellte, die dazu geführt hat, dass Deutschland heute eine halbwegs funktionierende Demokratie ist, sei hier nur am Rande erwähnt.

Der Antiamerikanismus steht auch in einer engen Verbindung zum Schwerpunkt dieses Beitrags. Das Lamentieren darüber, dass Amerika eine durch und durch verrottete Gesellschaft sei, geht bis ins 18. Jahrhundert zurück und erreicht im Nationalsozialismus seinen Höhepunkt. Adolf Hitler hielt Amerika für eine „halb verjudete, halb vernegerte Gesellschaft“, die dem Untergang geweiht sei. Derartige Aussagen finden sich auch heute, beispielsweise bei Alain de Benoist, dem Cheftheoretiker der Nouvelle Droite. Wie nahezu jedes ideologische Ressentiment hat auch dieses sozusagen einen wahren Kern – die demografische Zusammensetzung der amerikanischen Gesellschaft und die Geschichte der Einwanderung sehen nämlich gänzlich anders aus als in Kontinentaleuropa.

Die demografische Entwicklung Amerikas

Amerika bot seit dem Beginn der europäischen Einwanderung im 17. Jahrhundert immer wieder politisch oder religiös Verfolgten Aufnahme und die Möglichkeit eines Neuanfangs. Dies trifft in besonderem Maße auf die aus Osteuropa stammenden Juden zu, die in Amerika ein Leben frei von staatlicher antisemitischer Verfolgung und Diskriminierung führen konnten. Dass die Einwanderung Amerika bis heute stark prägt und zur Herausbildung spezifischer politischer Strukturen sowie zu einer weit verbreiteten Toleranz geführt hat, zeigt der neue Bericht des Census Bureau über die zu erwartende Bevölkerungsentwicklung bis 2050. Nicht nur wird die amerikanische Bevölkerung im Gegensatz zu allen anderen Industriestaaten weiter anwachsen, und zwar auf rund 400 Millionen im Jahr 2039 und auf geschätzte 439 Millionen im Jahr 2050. Vor allem wird sich auch der Anteil der ethnischen Gruppen und Minderheiten massiv wandeln. Der Beitrag der New York Times zu dem Bericht hatte deshalb die Überschrift: „Transforming America: Minorities will be in majority in 2042“. Zum ersten Mal wird also der Anteil der weißen Bevölkerung unter 50 Prozent fallen. Zugleich wird sich der Anteil der hispanischen Bevölkerung von 15 auf 30 Prozent erhöhen, ebenso wie sich der Anteil der asiatischstämmigen Amerikaner auf zehn Prozent verdoppeln wird. In einigen Staaten wie Texas und Kalifornien stellen bereits heute die früheren Minderheiten die Mehrheit.

Trotz der jahrhundertlangen Einwanderung und sehr unterschiedlicher Einwanderungswellen ist es der amerikanischen Gesellschaft immer wieder gelungen, die Immigranten nicht nur zu integrieren, sondern sie zu patriotischen Amerikanern zu machen. Auch heute steht Amerika nicht vor den gleichen Problemen wie die europäischen Gesellschaften. Obwohl es ethnisch stark separierte Viertel gibt – man denke nur an die Chinatowns in fast jeder amerikanischen Großstadt –, bildet sich keine Parallelgesellschaft heraus. Denn der Bezug auf die ethnische und kulturelle Herkunft ist anders konnotiert und hat andere Implikationen als in Deutschland. Außerdem ist keine Radikalisierung von Muslimen festzustellen, wie sie sich in vielen europäischen Gesellschaften vollzogen hat. Vor allem nach den Anschlägen in London und der daraus folgenden Debatte über den home-grown terrorism wurden einige vergleichende Studien über Muslime in England und in Amerika veröffentlicht, die eklatante Unterschiede zutage förderten. Eines der zentralen Ergebnisse lautete: Die in Amerika lebenden Muslime sind besser integriert, sie sind moderater und verstehen sich in der absoluten Mehrheit als Muslim-Americans. Diese Punkte verweisen auf eine andere Verfasstheit der amerikanischen Gesellschaft, deren Genese und historische Entwicklung kurz analysiert werden sollen.

Die Geschichte der Einwanderung nach Amerika

Der amerikanische Historiker Oscar Handlin sagte einmal, er habe eine Geschichte der Einwanderung nach Amerika schreiben wollen und dann festgestellt, dass die Einwanderung die amerikanische Geschichte ist. Dass die Neuankömmlinge nicht immer willkommen geheißen wurden, dass es immer wieder ausländerfeindliche, rassistische Gruppierungen gab und bis heute gibt, ist so richtig wie die Tatsache, dass dies der Attraktivität Amerikas als Einwanderungsland nie einen Abbruch getan hat. Amerika erscheint vielen als das Land der Zukunft und der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Topos des American Dream ist immer ideologisch aufgeladen und zugleich sehr viel mehr. In ihm reflektiert sich die reale Immigrationserfahrung von Millionen Menschen, die in der Neuen Welt Zuflucht vor Armut und unterdrückenden Verhältnissen fanden. Die amerikanische Geschichte ist zu verstehen als die permanente Kollision der in den Gründungsdokumenten der Republik verankerten Werte mit ihrer (fehlenden) Umsetzung. Doch auch wenn sich die Kluft zwischen Ideal und Realität wohl nie schließen wird und vielleicht auch gar nicht schließen kann, ist es im Laufe der Zeit doch zu einer Annäherung gekommen.

Der Ausgangspunkt der besonderen gesellschaftlichen Struktur Amerikas reicht zurück in die Frühphase der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents durch europäische Flüchtlinge, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts die ersten Kolonien gründeten. Vor ihrer Ankunft in Amerika waren sie bereits vor religiöser Unterdrückung aus England in die Niederlande geflohen. In der stark religiös geprägten Sicht der Calvinisten erschien die Überfahrt in die Neue Welt als Erfüllung der biblischen Heilsgeschichte, als neuer Exodus. Amerika war für die in Europa religiös Verfolgten das „neue Israel“, das „gelobte Land“. Sie beabsichtigten, A City upon the Hill, ein „neues Jerusalem“ zu gründen, wie es der erste Gouverneur der Kolonie Massachusetts, John Winthrop, in einer Predigt formulierte. Die biblische Metaphorik und der Rekurs auf die Exodusgeschichte wurden maßgebend für das amerikanische Selbstverständnis als Gegenpol zum alten Europa.

Eine religiöse Toleranz bildete sich auch dort nur in widersprüchlichen historischen Prozessen heraus. Generell ist es kennzeichnend, dass religiöse Konflikte anders gelöst wurden als durch bewaffnete Auseinandersetzungen, die für die europäische Geschichte so typisch sind. Bei Unstimmigkeiten kam es beispielsweise zur Gründung einer neuen Siedlung, was durch die massenhafte Verfügbarkeit von dünn besiedeltem Land ermöglicht wurde. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Die von dem Quäker William Penn gegründete Kolonie Pennsylvania wurde zu einem Beispiel für einen pragmatischen und gelassenen Umgang mit religiösen Differenzen und zu einem Zufluchtsort verfolgter religiöser Minderheiten. In der Verfassung wurde Gewissensfreiheit garantiert und ein fortschrittliches Strafgesetzbuch verankert. Der französische Philosoph Voltaire pries Pennsylvania als eine Regierung ohne Priester und sah nur dort die Postulate der Aufklärung realisiert. Die Situation in den Kolonien lässt manifest werden, was Hannah Arendt immer wieder hervorhob: dass dort nämlich im Gegensatz zu Europa die praktischen Erfahrungen den theoretischen Reflexionen vorausgingen. Es war Amerika, das Europa das praktische Beispiel gab, und nicht Europa, das Amerika die Theorie des Kontraktualismus und der Toleranz brachte.

Zum Verständnis dieser Entwicklung sind die Eigenheiten des Puritanismus zu berücksichtigen. Dieser bedarf keiner zentralen Instanz religiöser Autorität wie den Papst, weil er auf der Idee eines Vertrags der Individuen mit Gott basiert, dem so genannten covenant. Damit wird auch jede Form der Vermittlungsinstanz zwischen beiden obsolet und eine Priesterschicht überflüssig. Das wirkte sich auf die Struktur der Kirchengemeinden aus, die nach dem Prinzip des Voluntarismus aufgebaut waren. Die demokratische Organisation der Gemeinden und die auf Freiwilligkeit beruhende Teilnahme wurden später in den Staatstheorien in die Idee der Partizipation am politischen Leben transformiert.

Die amerikanische Revolution und die Dialektik von Einheit und Differenz

Diese frühe Entwicklung legte den Grundstein für die sich in der amerikanischen Revolution von 1776 manifestierende Säkularisierung einer zunächst genuin religiösen Erfahrung. Nicht nur die hohe Alphabetisierungsrate, sondern auch die sich aus der Stellung der Gemeinde ergebende Selbstregierung und lokale Selbstverwaltung führten zur Herausbildung eines politischen Bewusstseins bei einem Großteil der Bevölkerung. Nach der zugespitzten Situation in den Kolonien, die sich in der ersten antikolonialen Revolution der Weltgeschichte entlud, standen die Revolutionäre unmittelbar vor dem praktischen Problem, aus dreizehn Kolonien mit sehr unterschiedlichen Traditionen, zahlreichen verschiedenen Sekten und einer heterogenen Bevölkerung eine gemeinsame Nation hervorgehen zu lassen. Für eine religiös und geografisch stark fragmentierte Gesellschaft war dabei der Föderalismus der Garant des Pluralismus. Nur ein Zersplitterung der Macht und eine Dezentralisierung der politischen Struktur helfe, eine „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern, schrieb Tocqueville. Nach der erfolgreichen Revolution musste also eines der grundlegenden Probleme der Moderne gemeistert werden: die Dialektik von Einheit und Differenz.

Die theoretische Diskussion darüber findet sich in den Federalist Papers. Besonders der zehnte Artikel gilt als die Konzeptionalisierung des modernen Pluralismusprinzips. Madison schrieb darin: „Solange die menschliche Vernunft fehlbar ist und der Mensch frei ist, sie zu benutzen, wird es unterschiedliche Meinungen geben.“ Angenommen wird demnach, dass es niemals zu einer völligen Übereinstimmung von Interessen in der menschlichen Gesellschaft kommt, sondern Differenzen immer bestehen bleiben. Nicht die Beseitigung dieser Unterschiede oder ihre Harmonisierung ist somit das Ziel, sondern vielmehr ein adäquater Umgang damit. Für Madison bestand dieser Umgang in einer Neutralisierung der Auswirkungen von Meinungsverschiedenheiten durch ihre Institutionalisierung. Deshalb verwarf er auch die direkte Demokratie. Im Gegensatz zu den französischen Revolutionären verwahrten sich die amerikanischen Revolutionäre einer Verherrlichung des Volkes und verfielen nicht dem Glauben, dass es direkt herrschen könne. Sein politischer Einfluss müsse über Institutionen vermittelt sein, um einen Despotismus der Mehrheit zu verhindern. Eine reine Demokratie laufe Gefahr, in eine Ochlokratie, also in eine Herrschaft des Pöbels, umzuschlagen.

Der Anspruch auf die Bewahrung der Pluralität und die Vermeidung von Homogenisierung und Zentralisierung manifestiert sich auch im Motto der Vereinigten Staaten von Amerika: E pluribus unum, aus den vielen eins. Einen Versuch seiner Umsetzung stellen die 1787 verabschiedete Verfassung und der Grundrechtskatalog dar. In ihnen ist ein System der checks and balances festgeschrieben. Weitere grundlegende Elemente sind die Volkssouveränität mit Repräsentationssystem und das Bundesstaatenprinzip, das die Kompetenzen der Zentralgewalt und der Einzelstaaten regelt. Die Verfassung ist aber nicht nur die Institutionalisierung des politischen Pluralismus, sondern auch die Garantie für religiöse Vielfalt. Zur Sicherung der Einheit in dieser Vielheit bedurfte es einer strikten Scheidung von Staat und Glauben.

Die völlige Freiheit des Glaubens wurde gewährt; zugleich wurde dieser aber rigoros aus der öffentlichen Sphäre ferngehalten. Er wurde privatisiert und dadurch neutralisiert. In den Bill of Rights wurde das Prinzip der Religionsfreiheit und der Trennung zwischen Kirche und Staat, die Thomas Jefferson als wall of separation bezeichnete, konstitutionell fixiert. Der bis heute in Amerika wegweisende und nie angetastete erste Zusatz lautet: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen.“ Die amerikanische Verfassung bildet den Abschluss der Genese der amerikanischen Nation und zugleich die Basis für die weitere Entwicklung.

Der Historiker Dan Diner fasste die Besonderheit Amerikas wie folgt zusammen: „Die amerikanische Revolution beruht auf einem Universalismus der Menschen- und Bürgerrechte, dem es nicht auferlegt war, gegen bestehende Verhältnisse anzutreten. Das Privileg Amerikas war es, die Wirklichkeit einer neuen Welt gleichsam aus sich heraus zu erfinden. Die amerikanische Utopie etablierte sich in der Gegenwart, während die kontinentalen Revolutionen jeweils unterschiedliche Visionen in die Zukunft projizierten.“

Die Tradition des Liberalismus und das Selbstverständnis als Amerikaner

Amerika war also frei von historischem Ballast wie Absolutismus und Feudalismus. Nicht nur die Genese einer spezifischen politischen Struktur ist aus den unterschiedlichen Prämissen zu erklären, sondern auch die Entstehung einer Tradition des liberalen politischen Denkens. Schon nach der erfolgreichen Unabhängigkeit blieb eine Konterrevolution aus. Es bildete sich keine reaktionäre Bewegung heraus. Ebenso wenig entstand eine Arbeiterbewegung, die mit der europäischen vergleichbar gewesen wäre. Natürlich gab es militante Klassenkämpfe, aber diese drehten sich um die konkrete Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände. Dieser Kampf wurde auf dem Boden der Verfassung und unter affirmativem Bezug auf sie ausgefochten. Hinzu kommt, dass nicht zuletzt aufgrund der Einwanderung das meritokratische Prinzip das bestimmende wurde: Es zählte nicht die Herkunft oder Tradition, sondern die Leistung.

Aus der Notwendigkeit der Akzeptanz von Differenz und Pluralität entwickelte sich die Tradition des Liberalismus, und ein demokratischer Habitus wurde gesellschaftlich verankert. Außerdem bildete sich eine kritisch-distanzierte Haltung gegenüber Autoritäten heraus, vor allem gegenüber dem Staat. Theodor W. Adorno beschrieb diese Aspekte so: „Wesentlicher und beglückender war die Erfahrung des Substanziellen demokratischer Formen: dass sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie zumindest in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren und, wie ich fürchte, immer noch nicht mehr sind. Drüben lernte ich ein Potenzial realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum vorfindlich ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher.“

Das wirkte sich stark auf den amerikanischen Patriotismus und die Frage aus, was es bedeutet, Amerikanerin und Amerikaner zu sein. Selbstverständlich bedarf auch Amerika als Nationalstaat der Konstruktion einer einheitlichen Identität. Das Einheit stiftende Moment wurde in einer berühmten Formulierung als American Creed bezeichnet. Es meint die Herstellung einer gemeinsamen Identität über den Bezug auf abstrakte politische Werte. Dieser „Patriotismus der Werte“, der Amerika paradigmatisch als zivile Nation auszeichnet, wird immer wieder in symbolischen Handlungen bekräftigt, was die Wichtigkeit der Flagge, des 4. Juli, der Verfassung und des Pledge of Allegiance zeigt. Amerika ist das Gegenkonzept zur ethnisch fundierten Nation; es herrscht ein inklusiver Patriotismus vor. Der Bezug auf die abstrakten, in der Verfassung niedergelegten Werte begründet den Kern dessen, was die Substanz des Amerikaner-Seins ausmacht. Das sich um diesen Kern konstituierende Selbstverständnis muss immer wieder verändert und angepasst werden. Es ist ein permanenter Aushandlungsprozess, und die Diskussion darüber wird in der amerikanischen Gesellschaft auch regelmäßig geführt.

Im zweiten Teil: Das Pluralismusprinzip und die jüdische Einwanderung nach Amerika – Melting Pot oder Cultural Pluralism? – Die Aktualität der Diskussion – Der Multikulturalismus in Europa und die Aporien des Universalismus – Das französische Beispiel – Die Veränderungen des Judentums als Beispiel für die noch ausstehende Entwicklung des Islam? – Die Notwendigkeit einer historischen und komparativen Betrachtungsweise

* Und nicht die Gesellschaft für deutsche Sprache, wie zunächst geschrieben. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.