8.5.10

„Israel ist eine Art Wundergesellschaft“



Fiamma Nirenstein (Foto) ging 1967 als junge italienische Kommunistin nach Israel; als sie nach Italien zurückkehrte, war sie bei ihren Genossen zur persona non grata geworden, zu einer „Imperialistin“ und „unbewussten Faschistin“. Warum das so war, woher der Antisemitismus in der Linken kommt und inwieweit der „Palästinismus“ den Verstand der Europäer korrumpiert, davon erzählt die Autorin und Politikerin, die dem Regierungskabinett des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi angehört, im Gespräch, das Stefan Frank für Lizas Welt mit ihr geführt hat.

INTERVIEW: STEFAN FRANK*

Jerusalem ist derzeit im Fokus des Medieninteresses. Manche Leute behaupten, israelische Bauvorhaben im Ostteil der Stadt gefährdeten den „Friedensprozess“ und verärgerten die USA. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern hätten sich dadurch stark verschlechtert oder seien sogar in einer Krise, heißt es.

Fiamma Nirenstein: Der zehnmonatige Baustopp, der von Netanyahu im Dezember 2009 einseitig verkündet – und von Obama enthusiastisch begrüßt – wurde, bezog sich lediglich auf Siedlungen in der Westbank. Ostjerusalem war niemals darin inbegriffen. Jerusalem ist eine Angelegenheit, über die Israel und die Palästinenser nur am Verhandlungstisch reden können. Die meisten Leute sehen über die Tatsache hinweg, dass das, was gemeinhin als „Ostjerusalem“ firmiert, der Teil der Stadt ist, der zwischen 1948 und 1967 von Jordanien besetzt war. In den Jahrhunderten zuvor hatte die Stadt immer eine jüdische Bevölkerungsmehrheit. In früheren Verhandlungen, wie denen zwischen Arafat und Barak im Jahr 2000 oder denen zwischen Olmert und Abu Mazen 2007, haben sogar die Palästinenser in Erwägung gezogen, dass viele der Stadtviertel, die von den Zeitungen als „Siedlungen“ bezeichnet werden – wie etwa Ramat Shlomo –, möglicherweise in einem endgültigen Übereinkommen dem jüdischen Teil der Stadt zugeschlagen werden könnten. Und zwar deshalb, weil die meisten dieser Viertel entweder auf unbewohntem Land errichtet wurden oder in Gebieten, die vor der jordanischen Invasion von Juden bewohnt worden waren. Die Entscheidung, 1.600 Wohneinheiten zu errichten, war schon vor langer Zeit gefällt worden. Das schlechte Timing der Verkündung ist nun von den Amerikanern ausgenutzt worden, um den Friedensprozess in die von Obama gewünschte Richtung zu lenken.

Sie beschäftigen sich seit langer Zeit intensiv mit dem Antisemitismus der Linken. Wann wurden Sie zum ersten Mal auf dieses Phänomen aufmerksam?

1967, ich war damals ein junges Mädchen, und wie alle meine Altersgenossen war ich Kommunistin. Meine Eltern schickten mich in jenem Jahr in den Kibbuz Neot Mordechai in Nordisrael. Es war ein linker Kibbuz, jede Woche wurde der Ertrag eines Arbeitstages an den Vietcong gespendet. Während meines Aufenthalts brach der Sechstagekrieg aus. Ich kümmerte mich um die Kinder, brachte sie in die Schutzräume. Als ich nach dem Krieg nach Italien zurückkehrte, dachte ich, meine linken Freunde würden stolz auf mich sein. Doch die Gefühle, die mir entgegenschlugen, waren vielmehr furchtbar antiisraelisch. Warum das so war, verstand ich anfangs nicht. Doch plötzlich begriff ich: Es war das Stereotyp von den Juden, die sich mit dem Kapitalismus und Imperialismus verschworen hatten gegen die armen Völker der Welt, zu denen man auch Diktaturen wie Ägypten und Syrien zählte, Verbündete der Sowjetunion. Allmählich verstand ich die mächtigen Gefühle, die im Spiel waren: Die Juden wurden als etwas Böses angesehen – und Israel als der kollektive Jude, der nach der Macht griff.

Gibt es etwas spezifisch Linkes an diesem Antisemitismus?

Die Situation des Kalten Krieges erforderte es, dass eine Seite die der „guten“ Länder zu sein hatte. Mochten sie auch Diktaturen sein, Menschenrechte verletzen, Frauen unterdrücken oder Homosexuelle ermorden – sie waren die Guten, die armen Länder, die Dritte Welt. Auf der anderen Seite war der Imperialismus, angeführt von den USA.

Der zeitgenössische linke Antisemitismus ist also aus dem Schwarz-Weiß-Denken des Kalten Krieges heraus entstanden?

Ja. Er ist tief verwurzelt im Third-Worldism, der zum Palästinismus mutiert ist. Der Palästinismus ist eines der schlimmsten Übel unserer Zeit, er korrumpiert den Verstand der Europäer. Wenn Terroristen überall auf der Welt Anschläge verüben oder die Hamas in ihrer Charta schreibt, dass sie alle Juden umbringen will – nicht nur die israelischen –, dann kümmert das niemanden, weil es sich ja um Palästinenser handelt.

War das Jahr 1967 ein psychologischer Wendepunkt, weil damals viele Menschen erschraken, als sie entdeckten, dass Juden nicht von Natur aus Opfer sind?

Ja. Die Leute sahen, dass die Juden aufgehört hatten, jene Juden zu sein, die sie sich gern vorstellten: eine arme, von der Gesellschaft verachtete Minderheit, die sich in ihren Häusern oder ihren Synagogen versteckt, um zu beten, und die für alles eine Genehmigung der Nichtjuden benötigt. Plötzlich waren die Juden stark genug, um sich gegen Ägypten, Syrien und Jordanien zu verteidigen und sogar Gebiete zu erobern – in einem Krieg, der eigentlich ihr Schicksal hätte besiegeln sollen. Diese Wendung der Dinge machte viele Leute fuchsteufelswild. Die Welt schien Kopf zu stehen. Leider gibt es aber auch heute noch viele Juden, die sich selbst als Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank präsentieren wollen, die bereit sind, das Bild des starken Israel aufzugeben, und die sich so klein wie möglich machen wollen.

Eine Bundestagsabgeordnete der Linkspartei erklärte 2006, auf derselben Seite zu stehen wie die Hizbollah. Ist es bloßer Zufall, dass ein Teil der politischen Linken mit den djihadistischen Terroristen den Hass auf Amerika und den Antisemitismus teilt?

Sie sind verbunden durch ihre Gegnerschaft zur modernen Demokratie. Es gibt in der demokratischen Welt viel antidemokratische Ideologie, und dass sie ausgedrückt werden kann, ist ein Teil der Demokratie. Ich glaube nicht, dass diese Abgeordnete den islamischen Kleidungsvorschriften gehorchen und viele ihrer Rechte aufgeben möchte; dass sie die Sharia einführen – inklusive körperlicher Strafen wie Steinigungen oder Amputationen von Gliedmaßen – und Homosexuelle wegen ihrer sexuellen Präferenz umbringen will. Das ist es, was ich Palästinismus nenne: Menschen betrügen ihren Wunsch nach Frieden, nach Freundschaft und gegenseitigem Verständnis zugunsten von etwas, das sich am Ende gegen sie selbst kehren wird.

Im Januar sind Sie zusammen mit Ministerpräsident Berlusconi nach Israel gereist. Welchen Erfolg hatte die Reise?

Die israelische Bevölkerung fühlte, dass Berlusconi ihr Land nicht nur aus diplomatischen Gründen besucht, sondern aufgrund seiner tiefen Zuneigung zu den Juden. Israel dürstet nach Liebe und Sympathie, weil es so wenig davon bekommt. Zudem hatte der Besuch einen politischen Aspekt. In seiner Rede vor der Knesset hat Berlusconi fünfmal vom jüdischen Staat gesprochen. An diesem Ausdruck ist eigentlich nichts Ungewöhnliches, aber die meisten Politiker schrecken vor ihm zurück, weil sie fürchten, sie könnten die Araber verärgern. Israels Feinde sehen die Juden üblicherweise nicht als Nation. Vom jüdischen Staat zu sprechen, bedeutet, das jüdische Volk anzuerkennen.

Nach den Parlamentswahlen in Großbritannien könnte nun der israelfreundliche Politiker David Cameron Premierminister werden. Kann er gemeinsam mit Berlusconi etwas an der europäischen Außenpolitik ändern, die traditionell pro-arabisch ist?

Es gibt eine kleine Chance. Aber in der Vergangenheit hat die furchtbare Propaganda der Palästinenser und ihrer Freunde hervorragend funktioniert. Mit Hilfe von viel Geld und einer riesigen Medienmaschinerie hat sie die Presse, das Fernsehen und die Intellektuellen erobert und zahlreiche Schablonen in Umlauf gebracht, die den Staat Israel delegitimieren sollen. Sie sprechen von Israel als einem „Apartheidstaat“ oder als einem Staat, der bewusst Verbrechen verübe und etwa die Organe von Palästinensern stehle. Kein Mensch, der bei Verstand ist und ein bisschen über Israel weiß, würde solchen Behauptungen Glauben schenken – leider aber werden sie tatsächlich von vielen Menschen geglaubt. Antisemitismus wird in Verbindung mit Aufwiegelung und einem weiteren Faktor, nämlich der islamischen Immigration, zu einer mächtigen Mixtur.

Heißt das, dass Regierungen wegen dieses Drucks gar nicht in der Lage sind, zugunsten Israels zu handeln?

Die europäischen Politiker leben in einer großen Lüge. Jedes Mal, wenn eine Entscheidung getroffen werden könnte, die Israel tatsächlich helfen würde, sich zu verteidigen, ist großer Mut notwendig. Denken Sie etwa an die Geschehnisse um die Tötung des Hamas-Funktionärs in Dubai. Europäische Regierungen haben die jeweiligen israelischen Botschafter einberufen, weil Israel europäische Pässe gefälscht haben soll. Solche Anschuldigungen sind so scheinheilig, wenn man bedenkt, wer dieser Hamas-Typ war und was er getan hat: iranische Raketen in den Gazastreifen geschmuggelt, die Tel Aviv treffen können. Während des Gazakriegs wurde Israel angeklagt, Zivilisten zu töten, da es die militärischen Ziele nicht genau genug getroffen habe. Nun, da ein Ziel sehr genau getroffen wurde, wird auch protestiert. Wie soll Israel sich verteidigen, wenn ihm weder gestattet ist, Krieg zu führen noch gegen seine schlimmsten und gefährlichsten Feinde zielgenau vorzugehen?

Haben Politiker, die von der „moderaten“ Fatah und der „Notwendigkeit“ eines palästinensischen Staates sprechen, den Kontakt zur Realität verloren?

Bevor man über einen palästinensischen Staat spricht, sollte man die Palästinenser suchen, die eine demokratische Gesellschaft aufbauen wollen, und sie unterstützen. Es wäre keine gute Idee, einen palästinensischen Staat zu gründen, der den Terrorismus fördert und einen neuen Krieg anzettelt. Seit 1948 haben die Palästinenser alle Teilungspläne zurückgewiesen, weil ihr wahres Ziel die Zerstörung Israels ist. Gehen Sie auf die Webseite von Palestinian Media Watch und schauen Sie sich an, was das palästinensische Fernsehen über das Märtyrertum, die Zerstörung Israels und das Töten von Juden sagt. Die palästinensische Autonomiebehörde benennt Fußballplätze und Freizeitlager für Jugendliche nach sogenannten Shahids, das sind Menschen, die Juden umgebracht haben. Das Palästinenserhilfswerk UNRWA in Ramallah hat den Terroristen Abu Djihad, der Hunderte von Menschen ermordet hat, im Rahmen eines Bildungsprogramms mit einem nach ihm benannten Fußballturnier geehrt. So werden die palästinensischen Kinder erzogen. Wir müssen einen neuen Weg finden, wenn wir Frieden im Nahen Osten herstellen wollen. Man muss die antisemitische Aufwiegelung beenden, indem man aufhört, den Antisemiten Geld zu geben.

Die israelische Wirtschaft hat eine der höchsten Wachstumsraten der Welt und ist führend, was Wissen und Innovation betrifft. Auf der anderen Seite verliert ein wachsender Teil der Gesellschaft den Anschluss: die Haredim und die israelischen Araber. Beide leiden unter unzureichender Schulbildung und sind in der Folge überproportional von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Da diese beiden Gruppen die höchsten Geburtenraten haben, wird ihr Anteil an der Bevölkerung in den nächsten 30 Jahren voraussichtlich von 30 auf 50 Prozent wachsen. Für wie groß halten Sie dieses Problem?

Solche Statistiken haben immer getäuscht. Heute haben säkulare Familien viel mehr Kinder, als man früher gedacht hatte. In Tel Aviv scheint jedes Paar drei Kinder zu haben. Es gibt objektive Probleme, die man nicht leugnen kann. Aber Israel ist ein blühendes Land mit einer starken Wirtschaft und einem sehr schöpferischen High-Tech-Sektor. Ich bin zuversichtlich, dass wir den weniger glücklichen Israelis werden helfen können, die Kluft zu überwinden. Große Anstrengungen sind im Gange, und es gibt einen Sinn für die Notwendigkeit, Hindernisse zu überwinden. Israel macht das ständig – es ist eine Art Wundergesellschaft.
* Stefan Frank ist freier Journalist und schreibt unter anderem für die Monatszeitschrift KONKRET. Auf seiner Homepage ist eine Auswahl seiner Texte und Interviews zu finden.